16.04.2024

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Folge 48-21 vom 03. Dezember 2021 / Grundsatzurteil / Karlsruhe stärkt die Regierung und schwächt die Grundrechte / In seinem Urteil zur „Bundesnotbremse“ erklärt das Bundesverfassungsgericht die massiven Einschränkungen des Frühjahrs für verfassungskonform

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-21 vom 03. Dezember 2021

Grundsatzurteil
Karlsruhe stärkt die Regierung und schwächt die Grundrechte
In seinem Urteil zur „Bundesnotbremse“ erklärt das Bundesverfassungsgericht die massiven Einschränkungen des Frühjahrs für verfassungskonform
René Nehring

Überraschend ist das Urteil nicht. Schon im Mai hatte das Bundesverfassungsgericht Eilanträge gegen die „Bundesnotbremse“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie abgelehnt. Am Dienstag nun hat das höchste deutsche Gericht mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen und somit die im Frühjahr verhängten massiven Eingriffe in die Grundrechte der Bundesbürger, darunter Kontaktbeschränkungen im Alltag, nächtliche Ausgangssperren und Schulschließungen, für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. 

Zur Begründung führte das Gericht unter anderem an, dass das In- und Außerkrafttreten der Maßnahmen an konkret messbare Faktoren wie die Sieben-Tage-Inzidenz geknüpft und zudem zeitlich begrenzt war. Insbesondere dienten die vielfältigen Kontaktbeschränkungen dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems – und somit „verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten erreichen wollte“.

So weit, so gut: Bedenklich ist jedoch, dass die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber, also der Regierung und den Mehrheitsfraktionen im Parlament, bei der Wahl ihrer Mittel zur Erreichung der deklarierten Ziele nahezu uneingeschränkte Freiräume einräumen. So verweist das Gericht unter anderem auf die Sachverständigenanhörungen im zuständigen Ausschuss des Bundestags und auf die öffentlichen Debatten sowie die dabei geäußerten unterschiedlichen Einschätzungen zur Gefährdungslage, um dann zu erklären: „Belastbare Erkenntnisse, wonach nur geringe oder keine Gefahren für Leben und Gesundheit durch eine Infektion oder nur geringe oder keine Gefahren auch durch Überlastung des Gesundheitssystems vorlägen, waren jedoch nicht vorhanden.“ 

Alle Kompetenz der Regierung

Damit kehren ausgerechnet die obersten Hüter der verfassungsmäßigen Grundrechte die Beweislast um. Nicht die Exekutive, die einen massiven Eingriff in die Grundrechte der Bürger beschließen will, muss „belastbare Erkenntnisse“ für die von ihr behauptete Gefährdung der allgemeinen Gesundheitslage vorlegen, sondern diejenigen, die diese Gefährdung anzweifeln und deshalb ihre Grundrechte keineswegs eingeschränkt sehen wollen. 

Einen ähnlich großen Freiraum räumen die Richter der Regierung auch bei der Bewertung der Frage ein, ob die „angeordneten Beschränkungen von Kontakten im privaten und öffentlichen Raum (…) geeignet (waren), die Gesetzeszwecke zu erreichen“: „Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung“, so die Richter, „steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen.“ 

Zwar halten die Verfassungsrichter auch fest, „dass bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen“, doch billigen sie letztendlich im Zweifel stets dem Gesetzgeber zu, über die Beurteilung der Lage das entscheidende Wort sprechen und die Wahl der geeigneten Mittel selbst entscheiden zu dürfen – selbst bei Eingriffen in die Grundrechte der Bürger. 

Damit hat niemand geringeres als die obersten Hüter der Verfassung selbst entschieden, dass die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, die bislang als unveränderlich und unverletzlich galten und insbesondere die Allmacht der Staatsgewalt gegenüber den Bürgern binden sollten, nicht mehr bedingungslos gelten. Vielmehr hat Karlsruhe – das ist die nüchterne Erkenntnis des Urteils in Sachen „Bundesnotbremse“ – entschieden, dass der Gesetzgeber diese Rechte bei Bedarf einschränken darf. Ob der Bedarf tatsächlich vorliegt, liegt dabei ebenso im Ermessen des Gesetzgebers wie die Frage, ob die gewählten Mittel dem verkündeten Zweck überhaupt dienen. Rücksicht nehmen muss er jedenfalls auf niemanden mehr.