25.04.2024

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Folge 48-21 vom 03. Dezember 2021 / Flucht aus der DDR / Durchbruch mit der Dampflok

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-21 vom 03. Dezember 2021

Flucht aus der DDR
Durchbruch mit der Dampflok
Erik Lommatzsch

Es war eine der spektakulärsten Fluchten aus der DDR in die Bundesrepublik: Am Abend des 5. Dezember 1961 durchfuhr ein Personenzug die letzte Station Albrechtshof ohne Halt, beschleunigte weiter und durchbrach die Grenze nach Westberlin in Richtung Spandau. Harry Deterling, der die Dampflok steuerte und vom Heizer Hartmut Lichy unterstützt wurde, hatte das Ganze geplant. 

Die Vorgeschichte: Bedrückt durch die Verhältnisse in der DDR, hatte sich der Lokführer Deterling geweigert, die geforderte Zustimmung zur Grenzschließung vom 13. August zu bekunden. Ihm drohte eine Strafversetzung in ein Ziegelwerk. Ende November erfuhr er, dass eine für den Interzonenzug Hamburg-Berlin genutzte Strecke in den nächsten Tagen endgültig gekappt und der entsprechende Verkehr anderweitig abgewickelt werden sollte. Noch waren die Gleise über die Grenze allerdings in Betrieb und lediglich durch ein Eisentor und Stacheldraht abgesperrt. 

Deterling beschloss, die Gelegenheit zu nutzen. Unter der Vorgabe, zur Einsicht gelangt zu sein, meldete er sich zu Wiedergutmachungs-Sonderschichten und wurde tatsächlich mit seiner Ersatz-S-Bahn auf dem für ihn relevanten Abschnitt eingesetzt.

Seine Frau, seine vier Kinder, Verwandte und weitere Eingeweihte befanden sich in dem Zug, der den eigentlich vorgeschriebenen Endhalt ignorierte. Die Notbremsen waren so manipuliert, dass weder der Zugführer noch NVA-Soldaten und ein Polizist, die an der vorletzten Station zugestiegen waren, etwas ausrichten konnten. Von den überraschten Grenzern wurden Lok und Waggons beschossen, die Passagiere legten sich auf den Boden, Lokführer und Heizer verschanzten sich im Tender. Zu Schaden kam niemand. Um 20.45 Uhr brachte Deterling den Zug vor dem Einfahrtssignal Spandau-West zum Stehen. 25 Personen war die Flucht in die Freiheit geglückt. Einige unbeteiligte Fahrgäste, Zugführer, Soldaten und der Polizist gingen in die DDR zurück. 

Bereits am Morgen des Folgetags wurden die Schienen der Fluchtstrecke demontiert. Auf Transitstrecken baute man Entgleisungsweichen ein. Nie wieder durchbrach ein Zug die Grenze.

Noch lange bedrohte die Stasi die Familie Deterling, die in die Bundesrepublik ausgeflogen wurde. So war etwa geplant, eines der Kinder zu entführen. Deterling wurde durch die DDR-Justiz in Abwesenheit zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Familie lebte schließlich abgeschirmt in Süddeutschland.

Der Journalist Bodo Müller hat die Ereignisse in einem Kapitel seines 2000 erstmals aufgelegten Buchs „Faszination Freiheit“ anschaulich geschildert. Schon 1963 war die Flucht Grundlage des Spielfilms „Durchbruch Lok 234“.