19.04.2024

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Folge 48-21 vom 03. Dezember 2021 / Medizingeschichte / Die großen Ärzte halfen allen / Ronald D. Gerste stellt die Heilkunde des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar und vergleicht sie mit der heutigen kommerzialisierten Medizin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-21 vom 03. Dezember 2021

Medizingeschichte
Die großen Ärzte halfen allen
Ronald D. Gerste stellt die Heilkunde des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar und vergleicht sie mit der heutigen kommerzialisierten Medizin
Dirk Klose

Der Schriftsteller Gottfried Benn las kurz vor Kriegsende in einem „alten Schulbuch“: „Eine beliebige Seite, sie handelt vom Jahr 1805. Da findet sich: einmal Seesieg, zweimal Waffenstillstand, einer marschiert, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer erobert ein Lager, einer wird kriegsgefangen, einer wir zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich – all dies auf einer einzigen Seite. Das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren.“ Wie viel freundlicher klänge doch eine Menschheitsgeschichte zur Kunst, zur Technik oder zur Medizin. Das zeigt jedenfalls das Buch von Ronald D. Gerste. Er ist Arzt und Sachbuchautor. 

Heute können wir uns gar nicht mehr vorstellen, wie die Menschen noch vor 200 Jahren in ständiger Angst lebten. Geringste Krankheiten konnten Todesurteile sein. Typhus, Tuberkulose, Kinderlähmung, Kindbettfieber, Diphterie, Cholera – es waren Geißeln der Menschheit. Wie deren Ursachen erkannt, wie in mühseligen Forschungen Lösungen gefunden wurden, erzählt der Autor anschaulich und mit vielen Informationen zu den einzelnen Bereichen. Er berichtet, wie lebensrettende Äußerlichkeiten (humanere Krankenpflege, sauberes Trinkwasser, hauchdünne Handschuhe im OP-Saal, das Internationale Rote Kreuz) den medizinischen Fortschritt begleiteten. Natürlich sind die großen Deutschen wie Rudolf Virchow, Robert Koch, Wilhelm Röntgen, Ignaz Semmelweis und Ludwig Rehn präsent, aber auch große Briten (John Snow, Joseph Lister, Florence Nightingale), Amerikaner (John Warren) und Franzosen (Louis Pasteur) stehen ebenbürtig daneben. Der Leser ertappt sich, dass er sich regelrecht mitfreut, als es Joseph Lister mit einer waghalsigen Operation gelang, einem verunfallten Jungen ein Leben als Krüppel zu ersparen. Viele solche Einzelfälle machen das Buch zu einer animierenden Lektüre.

Gerste sieht Medizingeschichte als Teil der allgemeinen Geschichte, und so finden sich auch Kapitel zur Erfindung von Fotografie und Eisenbahn, zum Krimkrieg, zum Krieg 1870/71 und zum amerikanischen Bürgerkrieg. Er zeigt, dass gerade Kriege den medizinischen Fortschritt beschleunigten, weil Ärzte und medizinische Versorgung überlebenswichtig waren. Was immer wieder verblüfft: Ob Queen Victoria oder Slumbewohner – die großen Ärzte halfen allen. Gerstes bittere Bemerkung zur Gegenwart: „Die Heilkunde des späten 19. Jahrhunderts wirkt humanitärer und egalitärer als jene des frühen 21. Jahrhunderts in Ländern, wo die Medizin hochkommerzialisiert und für breite Bevölkerungsschichten nicht zugänglich ist.“

Ronald D. Gerste: „Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840–1914“, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021, gebunden, 400 Seiten, 24 Euro