26.04.2024

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Folge 49-21 vom 10. Dezember 2021 / Stadtkultur / Eine Flaniermeile wird kaputtregiert / Berliner Friedrichstraße verkommt infolge eines „Verkehrsversuchs“ – Bezirksamt bleibt jedoch stur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-21 vom 10. Dezember 2021

Stadtkultur
Eine Flaniermeile wird kaputtregiert
Berliner Friedrichstraße verkommt infolge eines „Verkehrsversuchs“ – Bezirksamt bleibt jedoch stur
Hermann Müller

Während Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) bis zum Antritt der neuen Landesregierung nur noch geschäftsführend im Amt ist, trifft die ihr unterstellte Senatsverkehrsverwaltung weitreichende Entscheidungen zur Zukunft einer der berühmtesten Berliner Straßen. Bereits seit August 2020 läuft auf einem Teilstück der Berliner Friedrichstraße ein sogenannter Verkehrsversuch, bei dem im Bereich zwischen Französischer und Leipziger Straße der private Autoverkehr verbannt wurde. 

Am 15. Oktober, also gut drei Wochen nach der Berlin-Wahl, gab die Verkehrsverwaltung bekannt, laut den Ergebnissen einer Zwischenauswertung sei der autofreie Verkehrsversuch in der Friedrichstraße erfolgreich verlaufen. Gestützt ist die Einschätzung offenbar auf eine „Passant*innenbefragung“ des Bezirksamts Mitte. Tatsächlich kann eine solche Umfrage unter Passanten aber keine abschließende Auswertung des Versuchs ersetzen, bei der auch die Erfahrungen der Anwohner und Gewerbetreibenden einfließen müssten. Trotz der positiven Einschätzung durch die grüne Verkehrssenatorin und den grün geführten Bezirk Mitte gibt es vor Ort tatsächlich reichlich Kritik. 

Anwohner aus der parallel zur Friedrichstraße verlaufenden Charlottenstraße beschweren sich etwa über deutlich mehr Autoverkehr, seit der Versuch läuft. Die Belastung in der Charlottenstraße samt angrenzendem Gendarmenmarkt ist so massiv, dass Betroffene inzwischen eine Initiative „Zukunft Gendarmenmarkt“ gegründet haben. Zudem klagen Händler in der Friedrichstraße über wegbleibende Kunden. Ursache ist nicht nur die Verbannung von Autos. Trotz der Ankündigung, die Aufenthaltsqualität der bekannten Einkaufsstraße zu steigern, will bei vielen Passanten das Gefühl einer Flaniermeile nicht richtig aufkommen. 

In der Mitte der Friedrichstraße verläuft nämlich ein vier Meter breiter Zwei-Richtungs-Radweg. Da die Radfahrer trotz Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde teilweise sehr zügig unterwegs sind, erfordert das Überqueren des Radwegs speziell von Senioren viel Vorsicht und Aufmerksamkeit. Dem Gefühl, entspannt über eine Flanierstraße zu bummeln, ist dies eher abträglich.

„Versuch“ wird wohl Dauerzustand

Inzwischen haben sich die aufgestellten „Stadtmöbel“ überdies zu einem Anziehungspunkt für Obdachlose entwickelt, die die Sitzgelegenheiten auch tagsüber als Schlafplatz nutzen. Anwohner berichten von Urin und Erbrochenem vor den Hauseingängen. Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), gab sich gegenüber der „B.Z.“ davon ungerührt: „Im Allgemeinen stehen die Stadtmöbel generell allen Menschen zur Verfügung, unabhängig von ihrem Einkommens- oder Wohnstatus. Der Aufenthalt von Obdachlosen in der Friedrichstraße stellt keinen Verstoß gegen geltende Gesetze dar.“ 

Für die betroffenen Anwohner, Händler und Passanten könnten die Begleitumstände des Verkehrsversuchs zum Dauerzustand werden. Da das Experiment aus Sicht der Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr erfolgreich verlaufen ist, will sie die Friedrichstraße über einen Antrag auf eine sogenannte „Teileinziehung“ dauerhaft für den Autoverkehr sperren lassen.