26.04.2024

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Folge 50-21 vom 17. Dezember 2021 / Lebensmittel-Lieferdienste / Ein Geschäftsmodell mit Zukunft? / In der boomenden Branche herrschen teilweise frühkapitalistische Zustände

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-21 vom 17. Dezember 2021

Lebensmittel-Lieferdienste
Ein Geschäftsmodell mit Zukunft?
In der boomenden Branche herrschen teilweise frühkapitalistische Zustände
Wolfgang Kaufmann

Sie heißen Gorillas, Khora, Flink, Getir, Gopuff und Wolt. Hinter diesen kryptischen Bezeichnungen verbergen sich Lebensmittel-Lieferdienste für städtische Privatkunden, die seit Beginn der Corona-Pandemie wie Pilze aus dem Boden geschossen sind oder aus dem Ausland kommend bei uns Fuß gefasst haben. Teilweise erhält der Besteller das Gewünschte schon nach zehn Minuten, was durch ein System von dezentralen Lagerhäusern und Fahrradkurieren ermöglicht wird. Dabei fallen die Gewinnspannen relativ niedrig aus. 

Das hält Investoren aber nicht davon ab, massenhaft Geld in die Branche zu pumpen – im ersten Halbjahr 2021 allein schon drei Milliarden Euro. Und dies soll erst der Anfang sein. Nach einer Prognose der Schweizer Großbank UBS könnte das Wachstum der Lieferdienste derart stark ausfallen, dass ihr Gesamtwert 2030 bereits bei rund 350 Milliarden Euro liegt. Gleichzeitig wird aber zulasten des Personals gespart, um im Wettbewerb auf dem verbissen umkämpften Markt bestehen zu können.

Daher klagen die Fahrer über zu niedrige Stundensätze von nur rund zehn Euro, zu spät gezahlte oder ganz ausbleibende Löhne sowie fehlende Sozialversicherungen. Dazu kommen die lückenlose Kontrolle der Beschäftigten über ihre Mobiltelefone und ein extremer Zeitdruck, der zu riskantem Verhalten im Straßenverkehr nötigt. Die Folge sind Unfälle und Verletzungen, für welche die Unternehmen aber nicht aufkommen wollen. 

Zu den übrigen Kritikpunkten zählen die mangelhafte Ausrüstung der Fahrer sowie Dienstpläne, die vom Computer generiert werden und keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse der Beschäftigten nehmen oder eine Verkürzung der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten implizieren.

Vielfach lassen sich nur Immigranten ohne Arbeitserlaubnis auf derart prekäre Dienstverhältnisse ein. Das kommt den Unternehmen womöglich entgegen, weil so kaum organisierter Widerstand zu erwarten ist. Dennoch haben die Fahrer von Gorillas im Oktober gestreikt. Darauf wurde mit unverzüglichen Massenkündigungen reagiert. Außerdem sabotiert der Lieferdienst Kritikern zufolge die Gründung eines Betriebsrates, indem er auf allerlei juristische Tricks zurückgreife. Im Prinzip herrschen in der Branche frühkapitalistische Verhältnisse, wobei diese durch Elemente des modernen Überwachungskapitalismus verschärft werden. 

Deshalb gehen Arbeitsmarktexperten davon aus, dass das Geschäftsmodell von Gorillas und Co. letztlich keine Zukunft hat: „Wer Kurierfahrer wie Tagelöhner behandelt, braucht sich nicht zu wundern, wenn zunächst das Personal wegbleibt und später auch die Kunden“, meint der Experte für Lebensmittelmarketing Otto Strecker von der Universität Bonn. Zumal es sich hier ohnehin nur um einen urbanen Nischenmarkt handele. 

Andererseits existiert aber auch enorm viel freies Kapital. Deshalb wetten die Investoren weiter darauf, dass noch mehr Menschen ihre Einkaufsgewohnheiten ändern. So beispielsweise beim Fortdauern der Corona-Pandemie und zusätzlichen Restriktionen im Hinblick auf den Zugang zu Lebensmittelgeschäften.