20.04.2024

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Folge 51-21 vom 24. Dezember 2021 / Weihnachten in Zinten / „‚Gute Fahrt in die Heilige Nacht“ / Alle bereiteten sich auf das Fest vor, doch der Vater, von Beruf Lokführer, hatte Dienst auf der Bahn von Heilsberg nach Königsberg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-21 vom 24. Dezember 2021

Weihnachten in Zinten
„‚Gute Fahrt in die Heilige Nacht“
Alle bereiteten sich auf das Fest vor, doch der Vater, von Beruf Lokführer, hatte Dienst auf der Bahn von Heilsberg nach Königsberg
Manfred Sattler

Der Kalender zeigte bereits den letzten Monat des Jahres an, und Weihnachten war nicht mehr weit. Seit Tagen hatte es bereits gefroren und reichlich Schnee war auch schon gefallen – typisch für Ostpreußen.

Von Tag zu Tag machte sich immer mehr Weihnachtsstimmung breit. Mütter mit ihren Kindern waren in vielen Familien vollends mit der Weihnachtsbäckerei beschäftigt. Es roch überall nach Mürbeplätzchen und dem für Ostpreußen obligatorischen Pfefferkuchen, gebacken im großen Stück auf Blechen oder zu hübschen Figuren ausgestochen, dazu mit Zuckerguss und Mandeln liebevoll dekoriert.

Pläne für Weihnachten wurden in jeder Hinsicht geschmiedet, und die Vorfreude auf den gemeinsamen Heiligabend und die beiden Festtage versuchte sich durchzusetzen. Jedoch sollte dieses nicht überall Wirklichkeit werden, so auch bei uns nicht, denn der Dienstplan meines Vaters sagte etwas ganz anderes aus.

Für ihn als Lokführer unserer mit immerhin elf Paaren besetzten Lokstation in Zinten war Dienst angesagt. Sein Platz war an jenem Heiligabend mit seinem Heizer Rautenberg auf der Dampflok. Er allein trug die Verantwortung für den Personenzug gegen 18 Uhr aus Heilsberg kommend, mit kurzem Aufenthalt in Zinten, bis ihm nach weiteren 36 Bahnkilometern der Hauptbahnhof in Königsberg zur Endstation an diesem Heiligabend werden sollte.

So mussten wir – meine Mutter, Großmutter und ich – diesmal den Heiligabend allein im Kerzenschein verbringen, in froher Erwartung auf Vaters Rückkehr am Vormittag des ersten Feiertages.

Dabei rückte nun an diesem besagten 24. Dezember die Ankunftszeit seines Zuges näher, und ich machte mich langsam auf den Weg zum Bahnhof. Unterwegs begannen die Glocken unserer auf einer Anhöhe liegenden Kirche zu schlagen. Ihr Geläut drang an diesem klaren, windstillen Winterabend bis in alle angrenzenden Dörfer und Güter vor, die zu unserem Kirchspiel gehörten.

Als ich nach zehn Minuten Weg den Bahnhof erreichte, parkten vor diesem bereits ein paar Pferdeschlitten mit zum Teil dampfenden Rössern davor, die ihrem Übermut im frischen Schnee freien Lauf gelassen hatten, während pflichtbewusste, fürsorgliche Kutscher ihre braven Vierbeiner mit Wolldecken gegen die Kälte absicherten und dabei Besucher erwarteten, die sich zu den Feiertagen angesagt hatten.

Als ich die Bahnhofshalle betrat, hatten sich ein paar Reisende eingefunden und fast im selben Moment gingen diese zum Bahnsteig, denn die Ankunft des Zuges war gemeldet und sein vertrautes Geräusch bereits wahrnehmbar. Noch ehe der Schaffner den Reisenden die Bahnstation Zinten durch lauten Ausruf verkündet hatte, stand ich bereits an der Lok meines Vaters.

Wir hatten nur Gelegenheit, ein kurzes Gespräch zu führen, denn seinem Personenzug war nur ein Aufenthalt von vier Minuten gewährt, so war nach wie vor Pünktlichkeit oberstes Gebot. Wir fanden kurz Gelegenheit, uns eine gesegnete Weihnacht zu wünschen, bevor ich ihm von meiner Mutter einen kleinen Beutel mit leckerem Inhalt für die Weiterfahrt und den Abend aushändigte.

Der Zeiger der Bahnhofsuhr rückte ohne Rücksichtnahme auf unser kurzes Zusammentreffen unaufhaltsam weiter. Das Ausfahrsignal am Ende des Bahnhofes war bereits gezogen und bedeutete „Freie Fahrt“. Der diensthabende Beamte namens Franke mit der unverkennbar roten Mütze hatte schon Position an der Maschine bezogen und als der große Uhrzeiger auf 18.05 Uhr sprang, hob er im selben Moment seinen Befehlsstab mit grünem Licht, es war die Aufforderung zur Abfahrt, wobei er meinem Vater und dessen Heizer Rautenberg die Worte zurief: „Gute Fahrt in die Heilige Nacht“, die mir bis zum heutigen Tag in Erinnerung geblieben sind.

Die blank geputzte Dampflok mit ihrem prall gefüllten Kohletender setzte sich laut schnaubend und an diesem Abend ganz besonders gefühlvoll in Bewegung. Mein Winken konnte bis zu einer gewissen Entfernung noch wahrgenommen werden, bis zu guter Letzt nur noch die Rücklichter des Zuges erkennbar waren.

Der Bahnhofsvorplatz war mittlerweile leer, denn die Schlittengespanne hatten sich auf den Heimweg begeben, und während die Kirchglocken längst verstummt waren, vernahm ich jetzt aus verschiedenen Richtungen das vielfältige Schellengeläut an den Kutschengeschirren der Pferde, das mit seinem zauberhaften Klang die Stille dieses Heiligabend erfüllte. Dazu glaubte ich, dass das Fahrgeräusch des Zuges nach Königsberg, zwar immer schwächer werdend, doch noch ein paar Mal auf dem Heimweg an mein Ohr drang. Der Schnee knirschte unter meinen nach Maß angefertigten und im hohen Schaft eng anliegenden braunen Filzstiefeln, um die mich viele beneideten und die mich besonders stolz machten.

Zuhause erwarteten mich bereits meine Mutter und die Oma. Die gute Stube erstrahlte trotz der Abwesenheit meines Vaters im weihnachtlichen Glanz. Liebevoll wurde ich in diesem Jahr einmal mehr mit Geschenken überrascht, doch immer wieder bewegten mich die guten Wünsche des Aufsichtsbeamten, die er mit den Worten „Gute Fahrt in die Heilige Nacht“ zu meinem Vater und dessen Heizer auf den Führerstand der Dampflok hinauf geschickt hatte.

Sie bedeuteten mir so viel, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe.

Manfred Sattler war Jahrgang 1926 und entstammte der bekannten Zintener Musikerfamilie Kaminsky. Er hat ein Buch über sein Leben geschrieben, Gedichte und auch Lieder komponiert. Die vorliegende Geschichte spielt etwa um das Jahr 1938..