29.03.2024

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Folge 01-22 vom 07. Januar 2022 / Philosophisches zum Jahresbeginn

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-22 vom 07. Januar 2022

Philosophisches zum Jahresbeginn

„Alles ist in der Natur verbunden: ein Zustand strebt zum andern und bereitet ihn vor. Wenn also der Mensch die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied schloß, so fängt er auch eben dadurch die Kette einer höhern Gattung von Geschöpfen als ihr niedrigstes Glied an; und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei ineinandergreifenden Systemen der Schöpfung. Auf der Erde kann er in keine Organisation mehr übergehen, oder er müßte rückwärts und sich im Kreise umhertaumeln; stillstehen kann er nicht, da keine lebendige Kraft im Reich der wirksamsten Güte ruhet; also muß ihm eine Stufe bevorstehn, die so dicht an ihm und doch über ihm so erhaben ist, als er, mit dem edelsten Vorzuge geschmückt, ans Tier grenzet. Diese Aussicht, die auf allen Gesetzen der Natur ruhet, gibt uns allein den Schlüssel seiner wunderbaren Erscheinung, mithin die einzige Philosophie der Menschengeschichte. Denn nun wird 1. der sonderbare Widerspruch klar, in dem sich der Mensch zeiget. Als Tier dienet er der Erde und hängt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fordert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen, und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgendeine edlere Anlage verfolgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen; für die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz immer nur eine Übungs- und Prüfungsstätte. Die Geschichte unsers Geschlechts mit ihren Versuchen, Schicksalen, Unternehmungen und Revolutionen beweiset dies sattsam. Hie und da kam ein Weiser, ein Guter und streuete Gedanken, Ratschläge und Taten in die Flut der Zeiten; einige Wellen kreiseten sich umher, aber der Strom riß sie hin und nahm ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Absichten sank zu Grunde. Narren herrschten über die Ratschläge der Weisen, und Verschwender erbten die Schätze des Geistes ihrer sammlenden Eltern. Sowenig das Leben des Menschen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet ist, sowenig ist die runde, sich immer bewegende Erde eine Werkstätte bleibender Kunstwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lustschloß ewiger Wohnung. Wir kommen und gehen; jeder Augenblick bringt Tausende her und nimmt Tausende hinweg von der Erde: sie ist eine Herberge für Wandrer, ein Irrstern, auf dem Zugvögel ankommen und Zugvögel wegeilen. Das Tier lebt sich aus, und wenn es auch höhern Zwecken zufolge sich den Jahren nach nicht auslebet, so ist doch sein innerer Zweck erreicht; seine Geschicklichkeiten sind da, und es ist, was es sein soll. Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. Die Ursache ist offenbar die, daß sein Zustand, der letzte für diese Erde, zugleich der erste für ein andres Dasein ist, gegen den er wie ein Kind in den ersten Übungen hier erscheinet. Er stellet also zwo Welten auf einmal dar; und das macht die anscheinende Duplizität seines Wesens.“ 

Johann Gottfried Herder (1744 in Mohrungen bis 1803 in Weimar)