Wasser gab es in Bismarck überall und immer zu viel. Es setzte dem Leben der Menschen enge Grenzen. Vor allem Abenteurer zog es in das Dorf. Der schöne Name des Reichskanzlers war ein Trick – damit ein paar Menschen, die in ihrer Jugend Bismarcktürme bestiegen hatten, freiwillig ins Moor gingen, freiwillig daran mitwirkten, den traurigen Sumpf trockenzulegen.
Johann Aschenbeck, mein Großvater, war als junger Mann in den Dienst des preußischen Staates getreten, um die Moore an der Memel-Mündung trockenzulegen. Im Mai 1903 schrieb er, durchaus guter Dinge, aus der Moorvogtei in die oldenburgische Heimat: „Hier gefällt es mir immer besser, machen jetzt gewöhnlich jeden Sonntag Radausflüge mit Damen, auch ein ganz hübsches Vergnügen, sonst eine Dampferfahrt, auch nicht schlecht, als Zerstreuung genug. Pfingsten bin ich auf mehreren Bällen eingeladen, werde mich dann auch ganz schön amüsieren. … Ganz nah an der russischen Grenze.“
Es war für den 25-jährigen Johann nicht leicht, in den Sümpfen eine Frau zu finden. Als junger Beamter, selbst knapp dem Bauernstand entronnen, wollte er nicht die Tochter eines Moorbauern heiraten, die womöglich noch – wie sein Vater, dem er das nie ausreden konnte – mit Holzschuhen durch den Morast stapfte. Er dachte an eine Frau, die nicht nach Rauch und Pferdemist roch, sondern nach französischem Parfum.
Das älteste Foto, das auf den Fluchten mitgenommen wurde und das auch die geschichtsvergessene Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg überstanden hat, zeigt Johann zusammen mit einer jungen Frau. Die Suche hatte also Erfolg. Hedwig Hahn war Tochter eines Gutsverwalters in Heydekrug, ein Ort, der nur ein paar Kilometer von Bismarck entfernt lag. Johann blickt selbstbewusst in die Kamera, wie jemand, der in seinem Leben bisher alles erreicht hat. Die linke Hand in die Hüfte gestellt, das Sakko offen. Der weiße Stehkragen und die weiße Fliege verdeutlichen den Anlass. Hedwig, eine gutaussehende Frau, steht ebenso stolz im Spitzenkleid neben ihrem Mann, die Haare hochgesteckt in der Mode der Jahrhundertwende. Beide zweifeln nicht an dem, was sie tun, sie blicken der Zukunft sicher entgegen.
Aufbruch in eine neue Heimat
Aber das 20. Jahrhundert brachte dann unerwartete Wendungen, brachte dann doch die Katastrophen, die jede Biographie prägten. Mit dem Ersten Weltkrieg verließen beide Ostpreußen. Eine von Hedwig geschriebene Postkarte stammt aus dem westpreußischen Schwetz und ist auf Juni 1917 datiert. Schwetz erwies sich nicht als die neue Heimat. Der Ort fiel 1920 nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags an Polen. Dann Lüben in Schlesien; hier zog Johann mit Frau und zwei Kindern in das Haus des verstorbenen Baurats Zschau und übernahm auch dessen Aufgaben. In unmittelbarer Nachbarschaft begannen damals die Abrisse für das neue Kreishaus. Alles sollte anders werden.
Hedwig war in Lüben schwer erkrankt und starb jung und überraschend im Jahr 1933. Für die kaum erwachsenen Dieter und Christel war es eine bittere Zeit. Christel war dem Königin-Louise-Bund beigetreten, um in der für sie fremden Stadt Anschluss zu finden, um nicht alleine mit ihrer Trauer zu bleiben. Ein Gruppenfoto aus dem Jahr 1934 zeigt fröhliche junge Frauen – und in deren Mitte eine in sich gekehrte, ernst blickende Christel.
Vater Tschorsch führte in der Altstadt von Lüben ein Antiquitätengeschäft. An der Liegnitzer Straße 42 verkaufte er Möbel aus aufgelöstem Gutsbesitz und kümmerte sich um Restaurierungen. Seine Tochter Helene, die alle Leni nannten, wurde kurz nach der Jahrhundertwende im glücklichen Jahr 1903 geboren – damals lagen Kriege in ferner Vergangenheit, der Wirtschaft ging es gut und die Städte wuchsen. Christel über Leni: „Sie ist als Hausfrau erzogen worden. Sie musste Nähkurse besuchen, Kochkurse, sie hat Klavierunterricht bekommen, sie war im Kirchenchor. Eine Berufsausbildung haben ihr die Eltern verweigert. Was sollten denn die Leute von der Familie Tschorsch denken, wenn ihre Tochter für Geld arbeiten gehen musste!“ (wiedergegeben in einem nachgelassenen Text von Udo)
In den 1920er Jahren begannen sich auch in Lüben die Zeiten zu verändern und die ganz traditionell erzogene Helene wollte nicht mehr nur Hausfrau sein. Weiter Christel: „Sie trug einen Bubikopf, sie hatte es durchgesetzt einen Schreibmaschinenkurs besuchen zu können, sie nahm eine Stellung beim Amtsgericht an, sie machte ihren Führerschein und kaufte sich ein Auto.“
Als junge Frau sah sie ihre Zukunft im großen Breslau, damals eine der modernsten deutschen Städte. Die Breslauer Kunstakademie war in den 1920er Jahren bedeutender als die Düsseldorfer oder die Münchner. Der Architekt Max Berg errichtete 1914 die „Jahrhunderthalle“, heute Weltkulturerbe. In den 1920er Jahren entstand die „WuWa-Siedlung“, in der das Wohnen der Zukunft gelebt und gezeigt wurde. „Zum ersten Mal konnte sie ihre Zeit selbst bestimmen, lernte Männer kennen, besonders aus dem Bekanntenkreis ihres Bruders. Der war leidenschaftlicher Motorradfahrer und nahm seine Schwester oft mit, wenn er mit Sportsfreunden eine Tour machte. So kam es, dass sie sich mit einem von ihnen verlobte.
Dies eine Jahr ist sie wohl richtig glücklich gewesen, bis ihr Bruder tödlich verunglückte, als er zum Baden fuhr – und wenig später ihr Verlobter fast an der gleichen Stelle. ... [Sie] hat sich erstmal zurückgezogen in den Frauenkreis, den sie aus ihren Kursen kannte. … Vater lernte sie beim Gericht kennen. Anfangs haben ihr seine Avancen wohl nur geschmeichelt. Den alten Knacker zu heiraten, wie sie mir einmal gestand, ist ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Sie hat sich weiter mit ihrem Freund getroffen und erst als Vater sie vor die Wahl stellte: Entweder er oder ich, muss ihr klar geworden sein, dass sie so wie bisher, sie war jetzt fast 35, nicht weiterleben konnte. Dann hat sie der Mut verlassen und die Zeiten hatten sich verändert, das war auch in Lüben zu spüren. Die deutsche Frau musste jetzt Mutter sein. Den Jüngeren wollte sie nicht heiraten, wegen des Altersunterschiedes und wegen des Geredes der Leute, und Vater, als Beamter, bot Sicherheit.“
Leni und Johann heirateten. Udo kam 1941 zur Welt, Rolf – mein Vater – 1943, und ein Jahr später kündigte sich weiterer Nachwuchs an. Ein unverhofftes Glück für den schon alt gewordenen Johann. Überhaupt waren es glückliche Jahre in der schlesischen Kleinstadt, alles stimmte, alles passte. Aber das Weltgeschehen spielte nicht mit, arbeitete gegen das Glück.
1944 wurde es eng in der Villa in Lüben. Der aus der Bukowina geflüchteten Professorenfamilie Pawlikowski war das Kinderzimmer zugewiesen worden. Hilde, die Tochter von Freunden, lebte ebenfalls im Haus. Udo, der Schriftsteller wurde und bei Suhrkamp veröffentlichte, beschreibt das Leben zwischen Glück und Katastrophe: „Leni geht in die Küche, setzt Wasser auf, nimmt die Gläser aus dem Schrank, Würfelzucker und Rum holt sie aus der Speisekammer, die Groglöffel aus der Schublade, und weint. Sie füllt die Gläser, gießt Wasser nach, setzt sich und versucht mit den Händen die Tränen zu bändigen. Als der Kessel pfeift, beugt sie sich über den Tisch und schluchzt ohne Ende. Was ist los mit dir? fragt Johann in der Tür, richtet sie auf, nimmt sie in den Arm und wiegt sie. Leni wischt die Tränen weg und stellt den Kessel vom Herd.
Manchmal halte ich es nicht mehr aus. Es kann nicht mehr lange dauern, die Russen rücken unaufhaltsam vor. Dann lass uns fliehen. Wir müssen warten. Dann lass mich packen. Lieber nicht, Lotte könnte sich verplappern.“
Wir müssen warten, sagte er also, wenn man Udos Beschreibung folgt. Nur nichts überstürzen, jetzt klug handeln. Ein falsches Wort, ein zu früh gepacktes Auto – und die Leute in der Stadt würden alles mitbekommen, würden ihnen Schwierigkeiten machen, ihn als Staatsdiener womöglich noch ins Gefängnis stecken, ihn an irgendeiner Mauer erschießen. Das neu errichtete Kreishaus mit dem Hakenkreuz über dem Eingang lag nur ein paar Meter entfernt. Die Aschenbecks begannen Normalität zu spielen, für die Hausangestellte Lotte, für Udo, für den kleinen Rolf, für die Hoffnung, dass alles nicht so kommen werde, wie es aussah.
Johann fuhr jeden Tag ins Büro, obwohl dort nichts mehr zu tun war, Leni mimte die fröhliche Hausfrau, obwohl sie genau wusste, dass ein vielleicht grausames Ende nahte. Und Udo stellte jeden Tag Fragen, auf die er keine ehrlichen Antworten bekam. „Lotte deckt den Tisch.“ „Was gibt es denn?“ „Schlesisch Himmelreich.“ „Schon wieder? Wie letztes Jahr um diese Zeit.“
Weihnachten 1944 hatten sie noch gefeiert wie immer; sie hatten Geschenke ausgepackt und Lieder gesungen. Aber schon am ersten Feiertag hatte Johann das dumpfe Grollen der Geschütze vernommen – und ihm war vermutlich bewusst, dass es nur noch Tage waren, die ihnen in ihrem Haus blieben, vielleicht würden sie den geschmückten Baum im Wohnzimmer stehen lassen, dann würde er allmählich seine Nadeln verlieren, niemand würde sie auffegen. Wenige Tage noch würden sie auf dem senfgelben Sofa sitzen. Das Porzellan, die viele Kleidung in den Schränken und den ganzen anderen Dingen, die im Laufe eines Lebens angehäuft waren – alles würde zurückbleiben.
Flucht aus Schlesien
An einem der letzten Januartage des Jahres 1945 sind sie aufgebrochen, mein Großvater, meine hochschwangere Großmutter, die vier Kinder, Lotte und der von Udo heiß geliebte Teddy. Den polnischen Nachbarn hatten sie den Schlüssel gegeben, ihnen das Versprechen abgenommen, gut auf das Haus aufzupassen. Die Katze hatte ihnen erstaunt, fast erschrocken hinterher gesehen, vielleicht ahnend, dass sich nun alles ändern würde.
Die, die auf der Flucht dabei waren, die alt genug waren, sich zu erinnern, haben den Rest ihres Lebens über die Erlebnisse geschwiegen. Was ist mit den Leichen, die sie sehen mussten? Gab es Angriffe, wurden sie ausgeraubt, gedemütigt, gar vergewaltigt? Nur Dunkelheit. Ende Februar 1945 kam Peter zur Welt. Der Geburtsschein nennt Wildfelde als Geburtsort, Wildfelde im Kreis Rothenburg bei Görlitz, heute untergegangen in einem Braunkohle-Tagebau. Udo immerhin berichtet in einem seiner Romane, wie er als Vierjähriger in Dresden auf einem Bahnsteig gestanden hatte. „Mir hatten sie eingeschärft, mich nicht von der Stelle zu rühren, am Kinderwagen stehen zu bleiben und das Gepäck zu bewachen.“ Sein Vater verschwand, um die weitere Fahrt zu regeln, seine Mutter verschwand, um Babynahrung für Peter zu organisieren. Udo war alleine in der fremden Stadt, und er begriff wahrscheinlich an diesem Tag, dass er auch in Zukunft allein sein werde.
Auszug aus dem unten genannten Buch des Autors, das brandaktuell erschienen ist.
Nils Aschenbeck: „Dotlingen. Mein Onkel, Adolf Hitler und ich“, 2021, bei Amazon erhältlich, ISBN 979-8770793925, Paperback, 178 Seiten, 12,80 Euro