24.04.2024

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Folge 02-22 vom 14. Januar 2022 / Mauerschützenprozesse / Der letzte Todesfall führte zum ersten Verfahren / In 131 Prozessen wegen der Schüsse und Minenexplosionen an der innerdeutschen Grenze wurden 385 Urteile gefällt, das erste vor drei Jahrzehnten, das letzte eineinhalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-22 vom 14. Januar 2022

Mauerschützenprozesse
Der letzte Todesfall führte zum ersten Verfahren
In 131 Prozessen wegen der Schüsse und Minenexplosionen an der innerdeutschen Grenze wurden 385 Urteile gefällt, das erste vor drei Jahrzehnten, das letzte eineinhalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall
Wolfgang Kaufmann

Gemäß Paragraph 213 des DDR-Strafgesetzbuches galt der „ungesetzliche Grenzübertritt“ als Verbrechen. Und der Paragraph 27 des Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR besagte ausdrücklich, dass die Anwendung der Schusswaffe gerechtfertigt sei, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“. Daher wurden die vier Grenzposten Andreas Kühnpast, Peter Schmett, Mike Schmidt und Ingo Heinrich vorerst auch nicht bestraft, sondern vielmehr belobigt, nachdem sie die beiden jungen Kellner Chris Gueffroy und Christian Gaudian in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 an der Berliner Mauer unter Einsatz ihrer Kalaschnikow-Sturmgewehre gestellt hatten und das Herz des 20-jährigen Gueffroy durchschossen worden war.

Wenige Monate später kollabierte indes das Unrechtsregime in Mitteldeutschland, und die Mutter des letzten Maueropfers stellte im Januar 1990 beim DDR-Generalstaatsanwalt Strafanzeige gegen die Grenzer. Es bedurfte allerdings erst der deutschen Vereinigung, ehe die Staatsanwaltschaft Berlin am 27. Mai 1991 Anklage gegen die Vier wegen gemeinschaftlichen Totschlags erhob. 

Das Verfahren vor dem Landgericht der Bundeshauptstadt endete vor 30 Jahren, am 20. Januar 1992, mit Freisprüchen für Schmidt und Schmett sowie einer zweijährigen Bewährungsstrafe für Kühnpast wegen seines nicht tödlichen Dauerfeuers auf die Flüchtenden. Dahingegen sollte der zur Tatzeit 23 Jahre alte gelernte Elektromonteur Heinrich für drei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis, weil er gezielte Schüsse auf Gueffroys Oberkörper abgegeben hatte. 

Radbruchsche Formel

Dieses Urteil wurde jedoch am 14. März 1994 vom Bundesgerichtshof (BGH) mit der Begründung aufgehoben, dass die Wehrpflichtigen Heinrich und Kühnpast „in gewisser Weise auch Opfer des Grenzregimes gewesen“ seien. Anschließend reduzierte eine andere Kammer des Berliner Landgerichts das Strafmaß auf zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung für Heinrich und erkannte im Falle von Kühnpast auf Freispruch.

Allerdings verpflichtete der Bundesgerichtshof die Gerichte in seiner Entscheidung dazu, die vorsätzliche Tötung von sogenannten Republikflüchtigen prinzipiell als nicht gerechtfertigten Totschlag zu bewerten, losgelöst davon, was im DDR-Grenzgesetz stand. Dabei berief sich der BGH explizit auf die sogenannte Radbruchsche Formel, eine im Jahre 1946 aufgestellte These des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch in Bezug auf die Möglichkeit der Ahndung von Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus. Diese besagte, dass sich niemand auf „unerträglich ungerechte“ Gesetze berufen könne, einschließlich solcher, welche die Gleichheit aller Menschen „bewusst verleugnen“. Und die Schwelle zum außerordentlichen Unrecht sei eben auch im Paragraphen 27 des Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR überschritten worden, so der BGH. Deshalb greife das im Artikel 103 des Grundgesetzes festgeschriebene Verbot der rückwirkenden Bestrafung im Falle der Mauerschützen nicht. Kein Bürger eines Staates sollte davon ausgehen, dass dessen „Staatspraxis“ auf ewig Bestand habe. Diese Ansicht wurde später vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg geteilt.

Neben denjenigen Angehörigen der Grenztruppen, die an der Mauer und anderswo auf „Republikflüchtige“ geschossen und damit gegen elementare Menschenrechte verstoßen hatten, mussten sich ab dem 13. November 1992 auch die „Täter hinter den Tätern“ verantworten, denen vorgeworfen wurde, andere Personen wie eben Heinrich als Werkzeug benutzt zu haben. Dazu gehörten nach Ansicht der bundesdeutschen Justiz die Mitglieder der DDR-Staatsführung Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Keßler, Fritz Streletz und Heinz Albrecht. Da Honecker, Mielke und Stoph als verhandlungsunfähig galten, erhielt nur der Rest der Angeklagten Freiheitsstrafen zwischen fünf Jahren und einem Monat und siebeneinhalb Jahren wegen Totschlags.

In einem weiteren Prozess vor dem Landgericht Berlin ergingen am 25. August 1997 Urteile gegen die Mitglieder des SED-Politbüros Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber. Die beiden Letztgenannten bekamen eine Haftstrafe von drei Jahren, während Honeckers „Kronprinz“ und Nachfolger sechseinhalb Jahre ins Gefängnis sollte.

„Täter hinter den Tätern“

Außerdem standen ab dem 1. März 1994 zehn ehemalige Offiziere der Nationalen Volksarmee im Generals- oder Admiralsrang vor Gericht, die im Rahmen ihrer Mitgliedschaft im Kollegium des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR auch Befehle bezüglich des Grenzregimes erlassen hatten. Dort kam es zu vier Verurteilungen wegen Beihilfe zum Totschlag. Die höchste Strafe waren drei Jahre und drei Monate.

Insgesamt wurden ab dem 20. Januar 1992 wegen der Schüsse und Minenexplosionen an der innerdeutschen Grenze in 131 Prozessen 385 Urteile gefällt. Dabei erhielten 275 Täter Haft- oder Bewährungsstrafen. 110-mal wurden die Angeklagten freigesprochen. 

Die letzte Verhandlung endete am 9. November 2004, genau eineinhalb Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer. Auf der Anklagebank saßen diesmal vier ehemalige Pionier-Offiziere der DDR-Grenztruppen. Sie zeichneten verantwortlich für die Installation von Splitterminen des Typs SM-70, durch deren Detonation vier Menschen starben. Der Prozess endete mit einem Schuldspruch.





Die 131 Prozesse

112

Verfahren fanden in Berlin oder Potsdam statt.

19

Verfahren fanden in Neuruppin statt.

275

Täter erhielten Haft- oder Bewährungsstrafen.