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Folge 03-22 vom 21. Januar 2022 / Österreichischer Nationaldichter / Ein Macher des habsburgischen Mythos / Eine Flut von Ideen und doch nur ein armer Spielmann geblieben – Vor 150 Jahren starb Franz Grillparzer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-22 vom 21. Januar 2022

Österreichischer Nationaldichter
Ein Macher des habsburgischen Mythos
Eine Flut von Ideen und doch nur ein armer Spielmann geblieben – Vor 150 Jahren starb Franz Grillparzer
Harald Tews

Der Anblick, so schildert der Erzähler das Ausmaß des Hochwassers, war grauenhaft: „In den Straßen zerbrochene Schiffe und Gerätschaften, in den Erdgeschossen zum Teil noch stehendes Wasser und schwimmende Habe. Als ich, dem Gedränge ausweichend, an ein zugelehntes Hoftor hintrat, gab dieses nach und zeigte im Torwege eine Reihe von Leichen ...“

Was an die Katastrophe von der Ahr im Sommer erinnert, ist Franz Grillparzers Augenzeugenbericht einer ähnlichen Heimsuchung, die sich im Frühjahr 1830 abgespielt hat. Damals überflutete die Donau nach einem Eisdurchbruch die am Fluss gelegene Wiener Leopoldstadt, in der 74 Bewohner ums Leben kamen. An der darauffolgenden Cholera-Epidemie starben etwa 2000 weitere Menschen.

In Grillparzers Novelle „Der arme Spielmann“ ist diese Flut auch metaphorischer Ausdruck von des Autors eigenem Pendeln zwischen Wagen und Bewahren, zwischen idealistischem und konservativem Fortschrittsdenken. Die Überflutung – auch von Ideen – führt für ihn letztlich zum lebensbedrohlichen Chaos. Am besten ist es, wenn sich der Fluss wieder in sein altes Bett zurückzieht.

Auch der am 21. Januar 1872 in seiner Geburtsstadt Wien im Alter von 81 Jahren gestorbene Grillparzer kokettierte mit politischen Grenzverletzungen. Bei der Märzrevolution hätte er als liberaler Dichter „jeden einzelnen küssen mögen“, der daran teilnahm. Als Staatsbeamter, der 35 Jahre lang sein Geld im Finanzministerium verdiente, machte er sogleich wieder einen Salto rückwärts und schrieb ein reaktionäres Gedicht auf Feldmarschall Radetzky: „Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! / Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer, / In deinem Lager ist Österreich.“

In seiner „Selbstbiographie“ diagnostizierte Grillparzer selbst seine Zerrissenheit: „In mir leben zwei völlig abgesonderte Wesen. Ein Dichter von der übergreifendsten, ja sich überstürzenden Phantasie und ein Verstandesmensch der kältesten und zähesten Art.“ Es liegt wohl auch daran, dass er zwischen den Epochen stand. Obwohl er noch Goethe getroffen hat, war die Zeit der Klassik, der er sich am liebsten zugeordnet fühlte, längst vorbei, und mit dem Biedermeier haderte er ebenso wie mit dem Vormärz. Mit seinen Dramen, die im Wiener Burgtheater aufgeführt wurden, habe er, so heißt es, den „habsburgischen Mythos“ erschaffen, und doch fiel sein Stück „König Ottokars Glück und Ende“ der Metternichschen Zensur zum Opfer. Erst nach einer Intervention von Kaiserin Karoline Charlotte Auguste durfte es aufgeführt werden.

Nach seinem Tod vor 150 Jahren haben sich die Österreicher mit Grillparzer versöhnt und ihn zum Nationaldichter erkoren. Ihm zu Ehren schufen sie in Wien ein Riesendenkmal, das es so nicht einmal für Nestroy, Lenau oder Adalbert Stifter gibt. Dabei werden seine Dramen heute kaum noch aufgeführt, seine Gedichte selten gelesen. Doch seine kleine autobiographisch gefärbte „Spielmann“-Novelle wurde zum Klassiker der deutschen Literatur und ist nicht erst seit dem Ahr-Hochwasser hochaktuell.