28.03.2024

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Folge 04-22 vom 28. Januar 2022 / Genosse. Preuße. Staatsmann / Vor 150 Jahren wurde der Sozialdemokrat Otto Braun geboren. Zeitgenossen nannten ihn den „roten Zaren von Preußen“. In der historischen Fachwelt galt er lange als wichtigster Exponent von „Preußens demokratischer Sendung“. Eine Erinnerung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-22 vom 28. Januar 2022

Genosse. Preuße. Staatsmann
Vor 150 Jahren wurde der Sozialdemokrat Otto Braun geboren. Zeitgenossen nannten ihn den „roten Zaren von Preußen“. In der historischen Fachwelt galt er lange als wichtigster Exponent von „Preußens demokratischer Sendung“. Eine Erinnerung
René Nehring

Unter den bedeutenden Staatsmännern der deutschen Geschichte im Allgemeinen und der preußischen im Besonderen ist Otto Braun heute kaum noch bekannt. Und das zu Unrecht. Zu Unrecht deshalb, weil der am 28. Januar 1872 in Königsberg geborene Sozialdemokrat mit seinen drei Amtszeiten zwischen 1920 und 1932 zu den am längsten regierenden Ministerpräsidenten Preußens gehört. Zu Unrecht auch, weil Brauns politische Biographie in vielem konträr zu dem steht, was sich nach 1945 in der deutschen Geschichtswissenschaft und Publizistik an vermeintlichen Erkenntnissen über Preußen festgesetzt hat. 

Preußische Genossen

So zeigt Brauns Lebenslauf – wie auch die Biographien anderer Sozialdemokraten wie Ferdinand Lassalle (aus Breslau), Otto Wels (Berlin), Gustav Bauer (Darkehmen/Ostpreußen), Paul Löbe (Liegnitz/Schlesien), Hugo Haase (Allenstein), Kurt Schumacher (Kulm/Westpreußen) oder Karl Schiller (Breslau) – interessante Verbindungen zwischen der Entwicklung des preußischen Staates und der Sozialdemokratie. Natürlich wurden im Kaiserreich fast alle Spitzenämter des Staates mit adeligen Politikern besetzt, sodass den Sozialdemokraten – die in den Sozialistengesetzen noch als „Reichsfeinde“ diffamiert worden waren – jahrzehntelang nur die Rolle der Opposition blieb. Dennoch formierte sich hier eine besondere Ausprägung der Sozialdemokratie, die zwar gegen die monarchische Alleinherrschaft gerichtet war, zugleich aber auch ein typisch preußisches Staatsverständnis pflegte, zu dem ein funktionierender Beamtenapparat ebenso gehörte wie die Pflege der Rechtsstaatlichkeit und das Bekenntnis zur öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit.

Dies zeigte sich nirgends so sehr wie in den Wirren der Revolution von 1918/19, als mit dem Rücktritt des Kaisers das alte Preußen implodierte und den „roten Preußen“ die Verteidigung des Staates gegen innere und äußere Feinde oblag. Mehrheitlich widerstanden sie den Verlockungen zur Ausweitung der Revolution wie in Russland, wobei sie auch mit rechten Freikorps paktierten und vor allem mit Innenminister Gustav Noske als „Law and Order“-Partei auftraten. 

Gegen Ende der Weimarer Republik wurde das sozialdemokratisch regierte Preußen zum zentralen Hort der jungen Demokratie in Deutschland. Mag das NS-Regime sich auch am „Tag von Potsdam“ 1933 in die geistige Tradition Preußens gestellt und mögen dies auch die Preußen-Skeptiker verschiedenster Couleur nach 1945 gern aufgegriffen haben, so erzählt doch das Agieren Otto Brauns und seiner preußischen Genossen eine ganz andere Geschichte. Preußen war nicht die Vorhut des „Dritten Reichs“, sondern ein Ort der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie – und somit das letzte Bollwerk gegen die braune Diktatur. 

Kind der Königsberger Sozialdemokratie

Doch der Reihe nach. Als Sohn eines selbständigen Schuhmachermeisters, der den Abstieg zum Bahnwärter erlebte, sah Braun früh die sozialen Verwerfungen des aufstrebenden Kaiserreichs. Er selbst erlernte das Druckerhandwerk und kam so bereits als Jugendlicher mit dem Pressewesen in Berührung. 

Ebenso früh fand Braun den Weg in die Sozialdemokratie. Mit seinem Organisationsgeschick und Führungstalent wurde er schnell zu einer prägenden Figur der SPD in Ostpreußen. Einer seiner bedeutendsten Erfolge in jener Zeit war die Gründung und Etablierung der parteinahen „Königsberger Volkszeitung“. Zu deren Redaktion gehörte neben den Gründern Braun und Hugo Haase ab 1897 auch Gustav Noske. 

Bereits 1898 wurde Braun Vorsitzender der ostpreußischen SPD, in den Reichsvorstand der Sozialdemokratie zog er 1911 ein. 1913 wurde er dann Abgeordneter des Preußischen Landtags. Als kurz darauf der Erste Weltkrieg ausbrach, gehörte er zu den Verfechtern einer Burgfriedens-Politik mit der Reichsleitung. Hier zeigte sich der besondere Wesenszug einer Sozialdemokratie, der in Zeiten der Not die Funktionsfähigkeit des Staates wichtiger war als ideologische Spielchen um die Macht. 

1918 wurde Otto Braun Landwirtschaftsminister des nun zum Freistaat gewandelten Preußen. Sofort betrieb er eine Agrarreform, deren Ziel die Umverteilung von brachliegendem Boden an ehemalige Soldaten war, die jedoch am Widerstand der Großgrundbesitzer, am Zögern des Ministerpräsidenten Paul Hirsch und nicht zuletzt an der Rechtslage scheiterte. 

An der Spitze des Staates

Der Kapp-Putsch im März 1920 führte nicht nur zum Rücktritt der Reichsregierung Gustav Bauers, sondern auch des Kabinetts Hirsch in Preußen. Braun wurde – gestützt auf die Parteien der „Weimarer Koalition“ SPD, Zentrum und DDP sowie später DVP – Ministerpräsident, nicht zuletzt, weil seine Gegner ihn in dieser Position für weniger gefährlich hielten als im Amt des Landwirtschaftsministers. 

Schon die Umstände seines Amtsantritts führten Braun die Gefahren für die junge Demokratie vor Augen. Entschlossen ging er daran, den Freistaat zum „demokratischen Bollwerk“ zu entwickeln. Dazu gehörten unter anderem der Umbau des Beamtenapparats (zusammen mit Innenminister Severing tauschte er alle Regierungs- und Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten und Landräte aus, die sich während des Kapp-Putsches gegen die Republik gestellt hatten), das Verbot links- und rechtsextremistischer Vereinigungen sowie eine umfassende Verwaltungsreform, zu der auch die Auflösung der fast 12.000 preußischen Gutsbezirke gehörte. Die Tragik dieser Bemühungen war, dass 1920 beim Kapp-Putsch der überwiegend noch von kaiserlichen Beamten getragene Staatsapparat dem autoritären Angriff auf die Demokratie widerstand, bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 der inzwischen sozialdemokratisch geprägte Beamtenapparat jedoch binnen kurzer Zeit den Kräften der Diktatur unterlag. 

Die rechtsstaatliche Prägung Brauns zeigte sich auch im Umgang mit dem Haus Hohenzollern. Anders als in Österreich, wo die Habsburger nicht nur ihren Stand verloren, sondern auch deren Vermögen dem Staat „unterstellt“ wurde, sowie auch im Gegensatz zu einem Volksentscheid über die sogenannte Fürstenenteignung, in dem sich die relative Mehrheit für die Enteignung der vormals regierenden Familien ausgesprochen hatte, kam es in Preußen im Oktober 1926 zu einem Vergleich, der den Hohenzollern den größeren Teil ihres Vermögens an Grund und Boden sowie einige Schlösser und Tausende von Kunstgegenständen beließ. Obwohl die Mehrheit der SPD-Fraktion innerlich für die Enteignung war, enthielt sie sich bei der Ratifizierung im Landtag; nicht zuletzt, da Braun für den Fall einer Ablehnung mit seinem Rücktritt gedroht hatte. 

Auch nach außen mussten sich das neue Preußen und das neue Deutschland vieler Angriffe erwehren. In Ost- und Westpreußen, in Oberschlesien sowie im Rheinland galt es, Separationsbestrebungen verschiedenster Prägungen zu widerstehen. Selbst die Auflösung des das Reich dominierenden preußischen Staates und seine Aufspaltung in Bundesländer stand im Raum. Als Ministerpräsident trat Braun entschieden allen Angriffen auf die staatliche und territoriale Integrität Preußens entgegen und konnte diese abwehren. 

Im Kampf um die Republik

Als 1925 überraschend Reichspräsident Friedrich Ebert starb, stellte sich Braun seiner Partei im ersten Wahlgang als Kandidat für das Amt des Staatsoberhaupts zur Verfügung und belegte mit 29,0 Prozent die zweitmeisten Stimmen, zog dann aber im zweiten Wahlgang zugunsten des Zentrumspolitikers Wilhelm Marx zurück. Als sich letztlich der populäre Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg durchsetzte, pflegten der preußische Ministerpräsident Braun und das neue Staatsoberhaupt ein von Respekt und Achtung getragenes Verhältnis. Vor allem die Liebe zur Natur und insbesondere zur Jagd in Ostpreußen verband die beiden miteinander. Das Vertrauensverhältnis wurde jedoch zerstört, als 1929 in Preußen der rheinische „Stahlhelm“ verboten wurde. 

Als Brauns Koalition der Mitte bei den Landtagswahlen im April 1932 erstmals keine Mehrheit bekam, blieb die Regierung gemäß der Verfassung des Freistaats geschäftsführend im Amt. Braun selbst hatte unter den Anstrengungen des Wahlkampfes unmittelbar vor der Wahl einen Zusammenbruch erlitten. Dies bot Reichskanzler Franz von Papen, dem angesichts der dauerhaften Krisensituation des Reiches eine Neuordnung des Staates vorschwebte, die Gelegenheit zum Schlag gegen die preußische Regierung, die ein entscheidendes Hindernis auf diesem Wege war. Am 20. Juli 1932 wurde durch zwei Notverordnungen des Reichspräsidenten zunächst die rechtmäßige geschäftsführende Regierung Braun abgesetzt und dem Kanzler als Reichskommissar die vollziehende Gewalt in Preußen übertragen. 

Die preußische Staatsregierung verzichtete sowohl auf den Einsatz der ihr unterstehenden Polizei als auch auf die Ausrufung eines Generalstreiks, sondern zog – im preußischen Glauben an die Rechtsstaatlichkeit – stattdessen vor das Reichsgericht, das am 25. Oktober 1932 tatsächlich entschied, dass die Absetzung der Regierung Braun nicht rechtens war. Zu diesem Zeitpunkt freilich hatte Papen die Spitzen der Verwaltung und der Polizei bereits ausgetauscht. Damit war Preußen, das wichtigste Machtzentrum der Parteien der demokratischen Mitte, als Hindernis für die Pläne Papens ausgeschaltet. Ein paar Wochen später war die Republik von Weimar am Ende. 

Beim Machtantritt der Nationalsozialisten floh Otto Braun in die Schweiz, lebte dort jedoch – da von seinen Pensionsbezügen abgeschnitten – zumeist in prekären Verhältnissen. Im schweizerischen Locarno verstarb er am 15. Dezember 1955. 

Urteil der Fachwelt

Heute, neunzig Jahre nach seiner Absetzung, ist Braun in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend vergessen. In der historischen Fachliteratur gibt es nur wenige Arbeiten, die sich mit ihm und seinem Wirken befassen. Die wichtigste ist die von Hagen Schulze geschriebene, fast 1100 Seiten umfassende Biographie unter dem programmatischen Titel „Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung“. 

Darin knüpft der Historiker an den von Friedrich Christoph Dahlmann in der Frankfurter Paulskirche verkündeten Traum von „Preußens deutscher und demokratischer Sendung“ an. Für Schulze „verkörperte sich (in Braun – R.N.) eine Alternative, die die Republik hätte überleben lassen“ – wenn die Institutionen des Reiches nicht so schwach gewesen wären. „Braun besaß ein strategisches Konzept, im offensichtlichen Gegensatz zu seinen meisten Partei- und Amtskollegen in den Reichskabinetten, die in der Regel zufrieden waren, wenn es ihnen gelang, sich durch die Widrigkeiten des Augenblicks zu wursteln. (…) Das Konzept war dasselbe, das Dahlmann einst formuliert hatte: Preußens deutsche und demokratische Sendung.“ Mit Braun, so Schulze weiter, „besaß die Idee einer ,demokratischen Sendung‘ Preußens einen realen Unterbau, und in der Tat übte die preußische Regierung zunehmend die Funktion einer Krücke der Reichspolitik aus, einer demokratischen Ordnungszelle Deutschlands“. 

Am Schluss seiner Biographie fasst der Historiker zusammen, was das Leben Brauns auch heute noch erinnerungswürdig macht. Für Schulze „verkörpert Otto Braun die Hoffnungen und Vergeblichkeiten einer ganzen Epoche deutscher Geschichte: der Proletarier aus dem Hinterhof in der Königsberger Altstadt; der führende Funktionär der größten Partei des Kaiserreichs; der Ministerpräsident und Gestalter des demokratischen Preußen; die stärkste innenpolitische Stütze der Republik von Weimar; der ,wahre Führer des arbeitenden Volks‘; der Demokrat, der die Mittel der Demagogie verschmähte und deshalb den Demagogen erlag; der vergessene Flüchtling; die Handvoll Asche in einem Schweizer See: ein deutscher Staatsmann.“