26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 05-22 vom 04. Februar 2022 / Radikalenerlass / Weder legitim noch zweckmäßig / Vor 50 Jahren beschlossen Bund und Länder die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-22 vom 04. Februar 2022

Radikalenerlass
Weder legitim noch zweckmäßig
Vor 50 Jahren beschlossen Bund und Länder die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“
Wolfgang Kaufmann

Im Jahre 1967 rief der Wortführer der Studentenbewegung der 1960er Jahre in West-Berlin und in Westdeutschland Rudi Dutschke seine Anhänger dazu auf, ihre revolutionären Ideen in einem „langen Marsch durch die Institutionen“ zu verwirklichen. Angesichts dessen beschworen CDU und CSU die Gefahr der Unterwanderung staatlicher Einrichtungen durch „Extremisten im öffentlichen Dienst“. Das wiederum brachte schließlich die ab 1969 regierende sozialliberale Koalition in Zugzwang, unter Beweis zu stellen, dass ihre Neue Ostpolitik keineswegs auf Zugeständnisse an die extreme Linke im eigenen Lande hinauslaufe.

Vor diesem Hintergrund beschloss die Bundesregierung im Einvernehmen mit den Ländern am 28. Januar 1972 die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“, auch „Radikalenerlass“ genannt. Darin hieß es: „Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt.“ Daher gelte künftig: „Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt.“ Außerdem sei zu prüfen, ob ein Beamter sowie auch Arbeiter oder Angestellter im Dienste des Staates, der „durch Handlungen oder wegen seiner Mitgliedschaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung“ auffalle, aus dem Dienst entfernt werden müsse.

„Marsch durch die Institutionen“

Damit ging der Radikalenerlass weiter als der Beschluss der Bundesregierung namens „Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung“ vom 19. September 1950. Denn in jenem sogenannten Adenauer-Erlass waren explizit 13 links- oder rechtsextreme Organisationen von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bis zur Sozialistischen Reichspartei (SRP) aufgelistet, denen Staatsdiener nicht angehören durften. 

Im Falle des Radikalenerlasses genügten für eine Entlassung oder Verweigerung der Einstellung hingegen schon Vermutungen über politische Ansichten, Denunziationen beim Verfassungsschutz oder Militärischen Abschirmdienst (MAD) sowie die Mitgliedschaft in Organisationen, die der Kooperation mit Extremisten bezichtigt wurden. Deshalb sprach der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Herbert Wehner auch alsbald von „Gesinnungsschnüffelei“, welche weniger dem Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als deren Untergrabung diene.

Schärfer als der Adenauer-Erlass

Und in der Tat war der Radikalenerlass in keiner Weise mit dem Artikel 21 des Grundgesetzes vereinbar, aus dem hervorgeht, dass eine Partei erst dann als verfassungswidrig eingestuft werden darf, wenn das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Feststellung getroffen hat. Und dies war zwar bei der SRP und der KPD der Fall, nicht jedoch beispielsweise bei der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). 

Dennoch aber konnten Bundesbürger aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden, wenn ihnen nachgewiesen wurde, dass sie an DKP-Werbeständen Schmalzbrote geschmiert oder Getränke verteilt hatten. Aufgrund dieser offensichtlichen Illegitimität des Radikalenerlasses wertete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ am 26. September 1995 als klaren Verstoß gegen die Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) und 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und verurteilte die Bundesrepublik zur Zahlung von Schadensersatz an eine wegen ihrer DKP-Mitgliedschaft entlassene Lehrerin.

Kritik aus dem In- und Ausland

Davon abgesehen verfehlte der Radikalenerlass auch seinen Zweck, Extremisten vom Marsch durch die Institutionen abzuhalten. Andernfalls wäre der aktuelle baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der sowohl in der Kommunistischen Studentengruppe / Marxisten-Leninisten als auch in der Kommunistischen Hochschulgruppe aktiv gewesen war, nicht trotz seiner maoistischen Neigungen als Gymnasiallehrer verbeamtet worden.

1991 war endgültig Schluss

Gleichzeitig entwickelten viele Menschen wegen des Radikalenerlasses und der daraus resultierenden faktischen Berufsverbote aus politischen Gründen ein diffuses Misstrauen gegenüber dem Staat, das teilweise bis heute nachwirkt. Vollkommen zu Recht bemängelten linke Kreise auch, dass der Erlass fast ausschließlich dazu genutzt wurde, vermeintliche Kommunisten aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. 

Auch schadete der Radikalenerlass dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland. In Frankreich wurde unter maßgeblicher Mitbeteiligung des späteren sozialistischen Staatspräsidenten François Mitterrand 1976 sogar ein Comité français pour la liberté d’expression et contre les interdictions professionelles en RFA (Französisches Komitee für Meinungsfreiheit und gegen Berufsverbote in der BRD) gegründet.

Insgesamt sollen in der Zeit der Geltung des Radikalenerlasses etwa 1250 Bewerber für den öffentlichen Dienst nach bundesweit dreieinhalb Millionen Regelanfragen beim Verfassungsschutz oder MAD nicht eingestellt worden sein. Dazu gab es mehrere Tausend Disziplinarverfahren, die in 256 Fällen mit einer Entlassung endeten. Zumeist traf es Lehrer, die als linksextrem galten.

1985 hob das Saarland den Erlass wieder auf. Danach folgten die anderen Länder, als letztes 1991 Bayern. Grund für den Rückzug waren die fehlende Legitimität und Zweckmäßigkeit des Radikalenerlasses sowie anhaltende Proteste insbesondere an den Hochschulen. Das heißt aber nicht, dass heute keine Anfragen an den Verfassungsschutz mehr ergingen, wenn es Bedenken wegen der politischen Gesinnung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst gibt. Allerdings passiert dies nun nur noch sporadisch statt systematisch flächendeckend und automatisch.





Betroffene

3,5

Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst in Bund und Ländern wurden durch Regelanfragen der Einstellungsbehörden bei den Verfassungsschutzämtern überprüft.

1250

Bewerber wurden nach den Regelanfragen und 11.000 Verfahren nicht eingestellt.

256

Personen wurden nach insgesamt 2100 Disziplinarverfahren entlassen.