27.04.2024

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Folge 05-22 vom 04. Februar 2022 / Östlich von Oder und Neisse / Wandel einer Kriegsbegeisterten zur Pazifistin / Schneidemühl zeichnet anhand der Geschichte der damals zwölfjährigen Piete Kuhr deutsche Geschichte nach

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-22 vom 04. Februar 2022

Östlich von Oder und Neisse
Wandel einer Kriegsbegeisterten zur Pazifistin
Schneidemühl zeichnet anhand der Geschichte der damals zwölfjährigen Piete Kuhr deutsche Geschichte nach
Chris W. Wagner

Die polnische Bevölkerung von Schneidemühl [Piła] erschließt sich die Geschichte der Tänzerin, Schauspielerin, Schriftstellerin und Pazifistin Jo Mihaly. Sie kam am 25. April 1902 als Elfriede Alice Kuhr in Schneidemühl zur Welt und starb 1989 im bayrischen Seeshaupt. Als Kind trug Kuhr den Kosenamen Piete.

Nach der Scheidung ihrer Eltern wuchs Piete mit Willi, einem ihrer drei Brüder, bei der Großmutter in Schneidemühl auf. Mit zwölf Jahren bekam sie von ihrer Mutter den Auftrag, ein Tagebuch zu den Kriegsereignissen 1914 bis 1918 zu schreiben. Und eben dieses Tagebuch diente dem Schneidemühler Paweł Różycki vom privaten TV-Sender Asta24 als Vorlage für einen Dokumentarfilm. Der Film „Piete Kuhr“ hatte Ende Dezember in einem Schneidemühler Kino Premiere.

Informationstafel am Wohnhaus

„Ganz vergessen war Piete Kuhr in Schneidemühl nicht, zumindest nicht im Bewusstsein der hiesigen deutschen Minderheit“, versichert Andrzej Niśkiewicz, der in der Schneidemühler Sozial-Kulturellen Gesellschaft der deutschen Minderheit aktiv ist. Er berichtet von einer Informationstafel am Wohnhaus Piete Kuhrs in der Zeughausstraße (Plac Konstytucji 3-go Maja), die 2018 angebracht wurde. „Doch wirklich wiederentdeckt wurde die Tänzerin und Autorin von Helena Maier aus Berlin“, berichtet Niśkiewicz. 

Maier war Entsandte des Instituts für Auslandsbeziehungen Stuttgart und arbeitete 2007 als Kulturmanagerin bei der Schneidemühler Deutschen Minderheit. Damals fiel ihr das Tagebuch der zwölf-jährigen Piete Kuhr in die Hände und ließ sie nicht mehr los. „Maier brachte eine Broschüre über Piete heraus und trug dazu bei, dass das Projekt ‚Europäisches Kulturerbe. Jo Mihaly – ein Wiedersehen nach Jahren‘ durchgeführt wurde“, so der in Warschau geborene Aktivist Niśkiewicz. Er berichtet, dass Maier die Schneidemühler Kulturszene für Piete Kuhr begeistern konnte. 

Kriegstagebuch auf Polnisch

Es folgten Veranstaltungen in Schulen oder Tanzaufführungen im Kulturhaus, die an Kuhr erinnerten. „Das Wichtigste jedoch war die Veröffentlichung der ersten polnischen Übersetzung des autobiographischen  ‚Kriegstagebuchs eines Mädchens 1914–1918‘ mit dem Untertitel: ‚… da gibt’s ein Wiedersehen‘“, berichtet er. 

Es musste zwar viel Wasser die Küddow [Gwda] entlang fließen, bis die heutige Schneidemühler Öffentlichkeit von der berühmten Tochter der Stadt erfuhr, aber es geschah gleich im Doppelpack. Paweł Różycki schrieb das Drehbuch und führte Regie für den Dokumentarfilm, Ewelina Wyrzykowska schrieb Kuhrs Tagebuch zum Bühnenbuch um und führte Regie im Stück „Tanzen im Rhythmus des Krieges“. Für das Bühnenstück gewann sie Schauspieler der Schneidemühler Bühnen „Virtuelles Theater“ und „Theater TAK“. Sowohl der Film als auch die Theaterdarbietung, beide in polnischer Sprache, wurden auf eine DVD gepresst. Finanziell wurde das Projekt durch die Stadt Schneidemühl und das Marschallamt der Woiwodschaft Großpolen (Wielkopolska) unterstützt.

Im Film kommen neben Wiesława Szczygieł, die das Leben und den Werdegang Piete Kuhrs analysierte, Historiker der Schneidemühler Museen zu Wort. Anhand von Archivbildern, historischen Recherchen und Szenen aus der Theatervorführung wird Kuhrs Leben vor dem Hintergrund der Ereignisse in Schneidemühl 1914 bis 1918 nachgezeichnet. „Das Dokument zeigt ein Schneidemühl, das es nicht mehr gibt, weder im physischen noch im kulturellen Sinne“, so Regisseur Różycki.

Historiker und Museen beteiligt

Anfangs erfüllt die zwölfjährige Piete gehorsam den Wunsch ihrer Mutter, das Tagebuch aus patriotischer Pflicht zu führen. „In der Kaiserin-Augusta-Viktoria-Schule wurden feierliche Heldengedenkstunden abgehalten, Schüler wurden vom Unterricht befreit, wenn die Deutschen es schafften, 50.000 Gefangene zu nehmen“, so Maciej Usurski vom städtischen Stanisław-Staszic-Museum. Er berichtet im Film, wie die westpreußische Kreisstadt Tausende von Gefangenen an ihre Grenzen kommen ließ. 

Bald schon herrschte eine Hungersnot. Essensmarken wurden eingeführt, die jedem Schneidemühler zwei Brote und 20 Brötchen für zwei Wochen zuteilten. Piete hörte sich Geschichten von Verwundeten Soldaten an, besuchte das Gefangenenlazarett und den Gefangenenfriedhof in der Berliner Vorstadt und sie verglich es mit Zeitungsberichten.

Atmosphäre beschrieben

„Das Tagebuch zeigt wie aus einem neugierigen Mädchen, das bedauert, am Krieg nicht teilnehmen zu können, durch das Erlebte und ihre Reflexionen eine Pazifistin wurde. Sie beschrieb und hinterließ uns die einzigartige Atmosphäre, die im Großen Krieg in unserer Stadt herrschte“, so Marek Fijalkowski vom Kreismuseum Schneidemühl.

Pietes Tagebuch „… da gibt’s ein Wiedersehn! Kriegstagebuch eines Mädchens 1914–1918“ wurde 1968 im Nachlass ihres Bruders Willi Kuhr gefunden und 1982 erstmals herausgegeben.