25.04.2024

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Folge 05-22 vom 04. Februar 2022 / Schirwindt / Auf der Suche nach einem verlorenen Ort / Der lange Weg zum östlichsten Bahnhof Deutschlands – Eine glücklich endende Begegnung mit dem russischen Geheimdienst

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-22 vom 04. Februar 2022

Schirwindt
Auf der Suche nach einem verlorenen Ort
Der lange Weg zum östlichsten Bahnhof Deutschlands – Eine glücklich endende Begegnung mit dem russischen Geheimdienst
Wolfgang Fiegenbaum

Es muss 1968 oder 1969 gewesen sein, als Paul Dost, einer der Pioniere der deutschen Eisenbahn-Literatur, seine beiden Hefte mit dem Titel „Die Privatbahnen und Kleinbahnen Ostpreußens“ als „Böttchers Kleine Eisenbahnschriften, Heft 38 und 39“ veröffentlichte. Darin war die Rede von der Pillkaller Kleinbahn A.G. und von nie gehörten Bahnhofsnamen wie Grumbkowkeiten, Kiauschen oder Schirwindt. 

Als junger Student nahm es der Autor zur Kenntnis und las mit leichtem Schaudern, dass die „Kleinbahn 1945 in der Hauptkampflinie restlos zerschossen“ worden sei. Bilder von der Bahn gab es kein einziges, wie überhaupt das von der Sowjetunion annektierte frühere nördliche Ostpreußen damals eine völlige Terra incognita war. Im Durchschnitt alle zehn, zwölf Jahre tauchten weitere kleine Berichte auf, wie der Hinweis, dass die Lokomotive „Spreewald“ des Deutschen Eisenbahn-Vereins in Bruchhausen-Vilsen ursprünglich bei der Pillkaller Kleinbahn gelaufen sei. Mehrmals wurde darüber geschrieben, dass der in der Sowjetunion sehr bekannte Schauspieler Alexander Anatoljewitsch Schirwindt (geboren 1934) die Stadt Schirwindt wieder aufbauen wolle und sie deshalb mit Genehmigung der Behörden besucht habe. Oder, dass Schirwindt die östlichste Stadt Deutschlands gewesen sei und unter anderem deshalb sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg als erste deutsche Stadt von sowjetischen Soldaten erobert wurde.

Die Frage, ob Schirwindt womöglich auch den östlichsten Bahnhof des Deutschen Reichs besaß, ist natürlich nur für einen begeisterten Eisenbahnfan von Interesse. Ebenso wie die Erweiterung dieses Gedankens, wo denn wohl der südlichste, nördlichste und westlichste Bahnhof des Deutschen Reichs zu finden war. 

Der Bahnhof Schirwindt in der gleichnamigen 1725 von Friedrich Wilhelm I. zur Stadt erhobenen Gemeinde war definitiv der östlichste Bahnhof im 1871 gegründeten Deutschen Reich. Er lag im Westen der Stadt an der Straße nach Pillkallen nur wenige 100 Meter vom Stadtzentrum entfernt. Im Mittelpunkt der kleinsten Stadt Preußens stand die von Friedrich Wilhelm IV. 1845 initiierte und von Friedrich August Stüler geplante evangelische Immanuelkirche im Stil der Neogotik mit ihren zwei 56 Meter hohen Türmen. Sie wurde am 14. September 1856 im Beisein des Königs geweiht und war als Gegenstück zu der auf der russischen (damals östlichen) Seite des Grenzflusses Scheschuppe gebauten barocken katholischen Kirche im heutigen Kudirkos Naumiestis gedacht.

Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg

Trotz dieses großzügigen Geschenks durch den preußischen Staat kann man der Stadt ansonsten nur ein fast durchgängiges katastrophales Schicksal bescheinigen: Sie wurde in beiden Weltkriegen fast vollständig zerstört. Auch von der Pillkaller Kleinbahn blieb schon im Ersten Weltkrieg bei der zweimaligen Eroberung durch russische Truppen ab Mitte August und ab Mitte November 1914 kaum etwas übrig. Für ihren Wiederaufbau nach der Befreiung von den Russen beschloss man im Dezember 1915 die Umspurung von 750 Millimeter- auf Meterspur. Er konnte nach zwischenzeitlichem Drei-Schienenbetrieb am 12. Juli 1917 vollendet werden. Gelang nach dem Ersten Weltkrieg der Wiederaufbau der Stadt Schirwindt mithilfe einer Partnerschaft mit der Stadt Bremen, so wurde sie spätestens am 17. Oktober 1944 erneut vollständig zerstört und zur einzigen Stadt Europas, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgebaut wurde.

Ein Bericht des Pfarrers von Schirwindt hat sich bis heute in der „Schirwindter Stube“ in der litauischen Schwesterstadt auf der östlichen Seite der Scheschuppe erhalten. Er beschreibt in zittriger Handschrift, aber in nüchternen Worten unvorstellbare Gräuel, vor allem an den Schirwindter Frauen, die noch tagelang tot und vielfach entblößt auf den Straßen der Stadt lagen. Für die sowjetischen Soldaten war Schirwindt als erste eroberte Stadt im Deutschen Reich ein Ort der Rache für die Verbrechen der Deutschen. Das Überschreiten der deutschen Reichsgrenze an der Scheschuppe in Schirwindt wurde dann auch von sowjetischen Kameraleuten ausführlich gefilmt.

Unvorstellbare Gräuel im Zweiten Weltkrieg

Schirwindt selbst wurde bis auf zwei, drei für das Militär noch brauchbare Gebäude vollständig abgerissen und mit seinem Umland zu einem der größten Truppenübungsplätze der Sowjetunion umgewandelt. Der neue Nichtort hieß seit 1947 Kutusowo nach dem Fürsten Michail Illarionowitsch Kutusow (1745–1813), der als Held des Vaterländischen Kriegs gegen Napoleon Bonaparte gekämpft hatte. Der Truppenübungsplatz mit dem Namen „Polygon“ besaß eine Größe von 20 mal 40 Kilometern und wurde besonderes Militärsperrgebiet, nachdem das ganze nördliche Ostpreußen bis 1991 für Ausländer und bis 1969 selbst für Sowjetbürger ohne Sondergenehmigung nicht zugänglich war. 

Nur sehr unterschwellig arbeiteten die erwähnten gelegentlichen Nachrichten aus oder über Schirwindt im Kopf des Autors weiter, bis sie offensichtlich im Jahre 2011 eine kritische Masse überschritten hatten und zu dem Entschluss führten: „Ich muss nach Schirwindt!“

Das war leichter gesagt als getan, stand doch in einem 2012 erschienenen Reiseführer der Satz: „Eine Fahrt nach Schirwindt gehört zu den elitärsten Reiseerlebnissen, die man in Europa haben kann.“ Ein litauischer, muttersprachlich russisch sprechender Reiseleiter vermittelte mir in Königsberg Kontaktpersonen und stellte immer wieder Anträge beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB, dem früheren KGB, der heute auch für die Grenzsperrgebiete zuständig ist. Es gab mehrere Abendessen in angesagten Lokalen im neugebauten „Fischerdorf“, Treffen mit Museumsdirektoren, aber auch mit jemandem, der den Autor für 300 Dollar per Jeep ohne Genehmigung nach Schirwindt bringen wollte. Schließlich schien im Sommer 2017 nach vielen Schreiben und Gesprächen ein genehmigter Besuch im Grenzsperrgebiet und damit vielleicht auch in Schirwindt möglich zu werden.

Doch dann fand im Juni 2017 die NATO- Übung „Iron Wolf“ im sogenannten litauisch/polnischen „Suwalki-Gap“ zwischen dem Königsberger Gebiet und dem Russland-Verbündeten Weißrussland statt. Im September 2017 folgte das russisch-weißrussische Manöver „Sapad“ („Westen“) zu beiden Seiten des Suwalki-Gaps.

Der Autor erlebte es in einem Hotel in mit einem Höllenlärm im Tiefflug im Kreis über die Region fliegende Kampfflugzeuge. Geradeausflüge sind bei Überschalljets in dem kleinen von drei Seiten von der Nato umgebenen Königsberger Gebiet immer nur wenige Minuten lang möglich.

Angesichts des etwas düsteren Szenarios war keiner der Partner mehr bereit, nach Schirwindt [Kutusowo] zu fahren. Ein Jahr später, im Mai 2018, war es dann aber so weit: Mit drei Begleitern, nämlich einem Litauer und zwei Russen, fuhren wir am 17. Mai 2018 von Insterburg in Richtung Pillkallen/Schloßberg [Dobrowolsk]. Dort waren der frühere Klein- und der Reichsbahn-Bahnhof anhand der noch vorhandenen Umladerampen relativ gut zu lokalisieren. Weiter ging es über eine kleine Landstraße mit einer mit Kopfsteinpflaster versehenen Mittelspur und sandigen Seitenstreifen in Richtung Osten. Jede Besiedlung hörte hier auf, und die kleine Gruppe sah bis zum Abend keinen einzigen Bewohner in der völlig verwilderten Landschaft.

Eindringlinge im militärischen Sperrgebiet

Nach einigen Kilometern sperrte eine Schranke mit Vorhängeschloss die Straße, und durch Gräben und schwere Grenzsteine war ein Umfahren der Schranke unmöglich. Was tun? Auch wenn es geschätzt noch etwa 20 Kilometer bis Schirwindt waren, wollte der Autor nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben.

Sie parkten das Auto am Straßenrand, nahmen ein paar Sachen mit und machten sich auf den langen Weg. Zur Not würden sie im Freien übernachten müssen. Nach knapp einer halben Wegstunde durch die zunehmend wärmer werdende schattenlose Einöde kam von hinten ein Auto langsam näher. Es entpuppte sich als ein russischer UAZ-39094 mit zwei FSB-Grenzern. Strenge und ausführliche Kontrolle der Papiere und lange Erläuterungen des Anliegens der Besucher folgten. Dann erfolgte die Bitte, doch auf der durch den Straßenstaub völlig verdreckten Rückbank Platz zu nehmen. Die Stimmung war auf dem Nullpunkt.

Als Nächstes erklärte der Grenzer, er wisse, wo der Bahnhof in Schirwindt gewesen sei … und würde die Gruppe dorthin fahren. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt wurde der Fahrer angewiesen, scharf nach rechts einzubiegen. Einen Weg gab es dort nicht, aber die Bäume und Sträucher waren an dieser Stelle noch sehr jung und maximal zwei Zentimeter dick. Unter lautem Aufheulen des Motors, Jaulen des Getriebes und dem Knacken und Aufprallen der Bäume erreichten sie kurze Zeit später ein Gelände mit Bunkertrümmern, Barackenresten und Mauerwerksteilen, das ihnen als Woksal (Bahnhof) angekündigt wurde.

Anhand eines kleinen Knicks in der Straße und der historischen Messtischblatt-Koordinaten wurde schnell klar, dass sie hier etwa 200 Meter westlich des ehemaligen Bahnhofs von Schirwindt gelandet waren. Fast überall konnte man nur kriechen, wobei man den Autor und seinen litauischen Begleiter nun allein suchen ließ, weil die Grenzer und die zwei weiteren Begleiter zu Recht um ihre Kleidung fürchteten. Da der Bahnhof sehr nahe an der Straße lag, fanden sie recht schnell seine Fundamente, zahlreiche Ziegelsteine und Kellerreste im Dickicht, die man kaum fotografieren konnte. Es waren eindeutig die Reste des nach dem Ersten Weltkrieg wiederaufgebauten Empfangsgebäudes von Schirwindt im Stil eines um 1920 modernen etwas größeren Einfamilienhauses.

In der Nacht vom 1. zum 2. August 1944 wurden viele Bewohner Schirwindts nach Westen evakuiert und spätestens bei der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee am 17. Oktober 1944 endete auch der militärische Nachschubverkehr.

Mit solchen Gedanken verließen sein litauischer Begleiter und der Autor über das ehemalige Gleisfeld das Unterholz. Dort, wo einstmals ein Anschlussgleis die Pillkaller Straße gekreuzt hatte, fand der Grenzer einen Gleisnagel im Grün, den er dem Besucher fast feierlich überreichte. Alle Anwesenden waren gerührt.

Die FSB-Begleiter arrangierten nun ein wahres Schirwindt-Besuchsprogramm. Sie  fuhren zu den Trümmern der Immanuelkirche, zu den Resten des russischen und deutschen Ehrenfriedhofs aus dem Ersten Weltkrieg nördlich der Stadt und oberhalb des tief eingeschnittenen Tals der Scheschuppe. Weiter brachten sie die Gruppe zur seit 1990 gesperrten Grenzbrücke nach Litauen am anderen Ufer des Flusses Schirwindt, der hier wenige Meter flussabwärts in die Scheschuppe einmündet. Hier hatten wir im Jahr zuvor sehnsüchtig von Litauen aus nach Russland fotografiert.

Das große Militärareal im Norden von Schirwindt wirkte eher wie eine große Müllhalde. Überall lagen Schrott, Munition und Trümmer von Bauten herum. Hier wurde offenbar nicht mehr geübt. Schließlich zeigten die beiden uns auch noch nach längerer Fahrt einen ehemaligen „Hitler-Bunker“ der Verteidiger von Schirwindt im Jahre 1944 und einen „weiteren Bahnhof“ der Pillkaller Kleinbahn, den wir bis heute nicht sicher identifizieren konnten (Lindicken?).

Als wir nach vier Stunden wieder an unserem Auto an der Schranke abgesetzt wurden, waren wir einfach überwältigt und dankbar von so viel Gastfreundschaft und Unterstützung. Die Stimmung verschlechterte sich nur kurzzeitig etwas, als ich den beiden Grenzern ein Trinkgeld als kleines „Dankeschön“ anbot. Sie wiesen es empört zurück. Ich hätte es wissen müssen!

Nachdruck in Auszügen mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erschienen in der Winterausgabe 2020 der „Bahnepoche“