20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 06-22 vom 11. Februar 2022 / Vergangenheitsbewältigung / Mit sechs Jahren Haft kam der ehemalige Stasichef davon / Rechtskräftig verurteilt wurde Erich Mielke nur wegen eines Doppelmordes aus der Weimarer Zeit. Vor 30 Jahren begann der Prozess vor dem Landgericht Berlin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-22 vom 11. Februar 2022

Vergangenheitsbewältigung
Mit sechs Jahren Haft kam der ehemalige Stasichef davon
Rechtskräftig verurteilt wurde Erich Mielke nur wegen eines Doppelmordes aus der Weimarer Zeit. Vor 30 Jahren begann der Prozess vor dem Landgericht Berlin
Heidrun Budde

In der DDR war allgemein bekannt, dass es die Staatssicherheit gab, aber der Öffentlichkeit blieb weitestgehend verborgen, wie dieser Unterdrückungsapparat funktionierte. Mitbürger verschwanden spurlos über Nacht und kamen gar nicht oder als gebrochene Menschen mit einer Schweigeverpflichtung aus den Gefängnissen und Psychiatrien. Fragen waren nicht erlaubt.

Diese Unberechenbarkeit des Geheimdienstes führte zu einer diffusen Angst und zu einem Kadavergehorsam in der Bevölkerung. Im Oktober 1983 starb beispielsweise die Mutter von Frau S. in der Bundesrepublik. Sie stellte einen Reiseantrag, um an der Beisetzung teilnehmen zu können. Der Direktor der Schule, in der sie arbeitete, gab dazu diese Stellungnahme ab: „Die Mutter unserer Kollegin S., Reinigungskraft, ist verstorben. Kollegin S. teilte es mir heute (Montag, 24.10.83) mit. Zuvor hatte mich der ABV und eine weitere Institution angerufen. Wir einigten uns auf Ablehnung.“

„Eine weitere Institution“

Der Vorgesetzte dieser Frau hatte nicht einmal den Mut, das Wort „Staatssicherheit“ zu benutzen. Die „weitere Institution“ war der Auffassung, dass die Frau nicht an der Beisetzung der Mutter teilzunehmen hatte, und niemand wagte zu widersprechen. 

Als der SED-Staat zusammenbrach und sich der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, vor der Volkskammer rechtfertigen musste, waren die Bürger über die Peinlichkeit seines Auftritts entsetzt. „Ich liebe doch alle Menschen“, stotterte dieser einst allmächtige Mann unter dem Gelächter der anwesenden Abgeordneten. Der Garant für eine brutale Unterdrückung anderer politischer Auffassungen stürzte vom Sockel, und die Bürger, insbesondere die Opfer des SED-Staates, hatten große Hoffnungen, dass die Täter des Systems nun eine gerechte Strafe bekommen würden. 

Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Eine strafrechtliche Verurteilung setzte eine gründliche Sachverhaltsaufklärung voraus. Doch 1989 herrschte das Chaos des Umbruchs. Rechtssicherheit, wie mit den Hinterlassenschaften des Geheimdienstes umzugehen war, wurde erst mit dem Stasiunterlagengesetz vom 29. Dezember 1991 geschaffen. Berge von Akten waren noch unerschlossen. 

Am 7. Dezember 1989 wurde Mielke das erste Mal wegen des Verdachts der „Schädigung der Volkswirtschaft“ und des „Hochverrats durch verfassungsfeindliche Aktionen“ in Untersuchungshaft genommen. Nachdem er zunächst wegen gesundheitlicher Probleme entlassen worden war, kam er im Juli 1990 erneut wegen des Verdachts der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Rechtsbeugung“ in Untersuchungshaft.

Am 4. Oktober 1990 legte sein Anwalt Beschwerde wegen der schlechten Haftbedingungen in Ost-Berlin-Rummelsburg und Plötzensee ein. Mielke wurde in die Justizvollzugsanstalt (JVA) nach Moabit verlegt. Zu diesem Zeitpunkt wäre es angebracht gewesen, den vormaligen Minister für Staatssicherheit an die Haftbedingungen in DDR-Gefängnissen zu erinnern, die er wesentlich mitzuverantworten hatte. Doch damals war das Ausmaß der Verlogenheit noch nicht bekannt.

Streng geheim wurde ein ganz anderer Umgang mit Strafgefangenen „organisiert“, als das in den veröffentlichten Gesetzen zu lesen war. Die politische Einstellung zum SED-Staat bestimmte wesentlich über die Bedingungen im Strafvollzug. 

Am 3. Juni 1985 erließ Mielke die Dienstanweisung Nr. 5/85 „zur politisch-operativen Arbeit im Organ Strafvollzug des MdI“ (Geheime Verschlußsache GVS -o008-11/85) mit der Anweisung einer „Abwehrarbeit unter solchen Strafgefangenen, die eine verfestigte feindliche Einstellung besitzen bzw. im Blickpunkt des Gegners stehen.“

Hoffnungen blieben unerfüllt

Besonderen Schikanen waren DDR-Bürger ausgesetzt, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. 1988 wurde Brigitte B. wegen „Versuchter landesverräterischen Nachrichtenübermittlung“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, weil sie sich wegen ihres Ausreiseantrages an die bundesdeutsche Organisation „Hilferuf von Drüben e. V.“ gewandt hatte. Sie berichtete über ihre Haft: 

„Während der gesamten Zeit der U-Haft bei der Stasi wurde alle paar Minuten durch den Spion in die Zelle gesehen, auch nachts. Das war das Nervenaufreibendste an den Kontrollen, da jedes Mal das Licht angeschaltet wurde. An Einschlafen war nicht zu denken und ich hatte das Gefühl, total zermürbt zu werden … Drei Monate verbrachte ich auf Hohen­eck und das waren die schlimmsten Monate in meinem Leben. Die Bedingungen in diesem Zuchthaus sind derart katastrophal, dass das Ziel ,Erziehung‘ wie ein Hohn klingt. In einer Zelle von 32 Quadratmetern wurden zehn Frauen in fünf Doppelstockbetten untergebracht. Für die Zelle standen drei Waschbecken und eine Toilette zur Verfügung. In der uralten, zerfressenen Dielung hielten sich Unmengen von Kakerlaken auf.“ 

Die Akten belegen heute, dass es zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und dem des Inneren eine enge Zusammenarbeit gab. Die Staatssicherheit führte dem Innenminister bei der Ausarbeitung seiner Vorschriften zum Strafvollzug die Hand, denn der Leiter der Hauptabteilung VII des MfS war für die „Wahrnehmung der Federführung bei der Gewährleistung der einheitlichen Organisation der politisch-operativen Arbeit im Organ Strafvollzug“ verantwortlich. 

Ein Ergebnis dieses „politisch-operativen Zusammenwirkens“ war die am 12. Januar 1981 streng geheim erlassene „1. Grundsatzentscheidung zur Ordnung Nr. 107/77 – Teil A – des Innenministers (Vertrauliche Verschlußsache I 080 125). Strafgefangene konnten in die Kategorie „besonders gefährliche Straftäter“ eingeordnet werden, ohne dass sie davon wussten oder sich dagegen wehren konnten. Das waren Strafgefangene, „die aus einer verfestigten negativen politischen Einstellung gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung“ Straftaten begangen hatten und die dafür eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und mehr erhielten. Diese „besonders gefährlichen Straftäter“ waren „wirksam zur sozialistischen Staatsdisziplin und zum verantwortungsbewußten Verhalten im gesellschaftlichen und persönlichen Leben zu erziehen.“

Reue hat der Mann nie gezeigt

„Erziehung“ bedeutete hier, ein „Aufenthalt in ständig verschlossenen Verwahrräumen“, die „persönlichen Verbindungen sind streng zu überwachen“ und eine „Überweisung vom allgemeinen in den erleichterten Vollzug ist nicht vorzusehen“. Weiter wörtlich: „Der Außenarbeitseinsatz dieser Strafgefangenen … ist nicht statthaft. Sie sind entsprechend den Möglichkeiten vorwiegend zu körperlich schwerer Arbeit einzusetzen.“ Bleibende Gesundheitsschäden durch „körperlich schwere Arbeiten“ wurden nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern bewusst herbeigeführt. 

Mielke blieb ein solcher Strafvollzug erspart. Einen Tag nach der deutschen Einheit verlangte er vom einstigen „Klassenfeind“ eine menschliche Behandlung, und er bekam sie auch. Weder Mielke noch Friedrich Dickel mussten sich für den menschenverachtenden Umgang mit Strafgefangenen verantworten. 

Zur Verantwortung gezogen wurde Mielke nur für eine vor der Existenz von DDR und Staatssicherheit begangene Missetat, den mit Erich Ziemer am 9. August 1931 begangenen Mord an den Polizeioffizieren Paul Anlauf und Franz Lenck auf dem Bülowplatz in Berlin.  Vor 30 Jahren, am 10. Februar 1992, begann die Verhandlung im Landgericht Berlin. Am 26. Oktober 1993 wurde Mielke wegen Mordes zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ende 1995 konnte er das Gefängnis als freier Mann verlassen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er gut umsorgt in einem Pflegeheim in Berlin Neu-Hohenschönhausen. Am 21. Mai 2000 starb Erich Mielke. Reue hat dieser Mann nie gezeigt.