28.03.2024

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Folge 08-22 vom 25. Februar 2022 / Kein Abschied von Preußen / Vor 75 Jahren verfügte der Alliierte Kontrollrat die Auflösung des größten deutschen Teilstaates. Doch Totgesagte leben länger. Und so ist ein Dreivierteljahrhundert später Preußen in vielen Bereichen noch immer erstaunlich präsent

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-22 vom 25. Februar 2022

Kein Abschied von Preußen
Vor 75 Jahren verfügte der Alliierte Kontrollrat die Auflösung des größten deutschen Teilstaates. Doch Totgesagte leben länger. Und so ist ein Dreivierteljahrhundert später Preußen in vielen Bereichen noch immer erstaunlich präsent
René Nehring

Die Bestatter fassten sich kurz – und waren dennoch gründlich. Am 25. Februar 1947 beschloss der Alliierte Kontrollrat, die oberste Besatzungsbehörde der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, in seinem Kontrollratsgesetz Nr. 46 die formale Auflösung des Staates Preußen, seiner Zentralregierung und aller nachgeordneter Behörden. Die ehemals preußischen Gebiete sollten „die Rechtsstellung von Ländern erhalten oder Ländern einverleibt werden“. Auf diese sollten auch die „Staats- und Verwaltungsfunktionen sowie Vermögen und Verbindlichkeiten des früheren Staates Preußen“ übertragen werden. 

Zur Begründung dieses eigenartigen Schrittes – der Kontrollrat selbst hielt in der Präambel zu seinem Gesetz fest, dass Preußen bereits „in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört“ hatte – schrieben die Siegermächte, Preußen sei „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“. Sich selbst bescheinigten sie, „geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker“ zu sein sowie „erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern“.   

Erstaunlich ist diese Preußen-Auflösung noch heute, weil nicht nur den Alliierten bewusst war, dass Preußen längst aufgehört hatte zu existieren, sondern auch den Deutschen. Mit der Durchführung der ersten Landtagswahlen im Jahr zuvor hatte die politische Neugliederung ihres Landes längst begonnen. Um so denkwürdiger, dass die Besatzungsmächte gewillt waren, dem längst verblichenen Staat auch ein formales Begräbnis zu geben. 

Gleichwohl ist seit jenem 25. Februar 1947 unendlich viel über Preußen gesagt und geschrieben worden. Wie könnte es auch anders sein bei einem Staat, der in der Mitte Europas über fünf Jahrhunderte lang eine einzigartige Aufstiegsgeschichte geschrieben hat und letztlich 1871 den modernen deutschen Nationalstaat prägte? Bis heute werden je nach persönlichem Standpunkt, nach politischer Orientierung oder nach lokaler Verortung die großen Akteure, Ereignisse und Entwicklungen der preußischen Geschichte mal mit Sympathie und mal mit Ablehnung beschrieben – aber niemals gleichgültig. 

Falsche Anklage

Eine bis heute relevante Frage ist, ob dieses Preußen wirklich jener Hort der Reaktion war, als der es nicht nur von den alliierten Siegermächten, sondern auch von vielen deutschen Historikern dargestellt wird. Die Antwort darauf lässt sich in hunderte Seiten langen Analysen niederschreiben – oder in wenigen Sätzen. Preußen war die meiste Zeit seines Bestehens über ein überaus erfolgreicher Staat. Ein Staat, der die europäischen Großmächte herausforderte und sich dabei – zugegebenermaßen oftmals mit sehr viel Fortune – meistens durchsetzte. Dabei wurden preußische Herrscher, Staatsmänner und Gelehrte wie Friedrich der Große und Otto v. Bismarck, wie Immanuel Kant und Alexander v. Humboldt zu Vorbildern weit über die Grenzen des Landes hinaus. Ein solcher Staat kann kein Hort der Reaktion sein. Preußen setzte sich deshalb durch, weil es die meiste Zeit seiner Geschichte an der Spitze des gesellschaftlichen und technischen Fortschritts stand. 

Tatsächlich sollte dieses Preußen denn auch 1947 aus der Geschichte verschwinden, weil es von keinem der maßgeblichen Akteure der Nachkriegszeit mehr gebraucht wurde. Die Alliierten in Ost und West hatten sich in der zweigeteilten Welt des beginnenden Kalten Krieges jeweils ein großes Stück des alten Deutschlands als Teil ihrer Einflusszone gesichert, da war die Erinnerung an einen Staat, der bereits lange vor der Reichsgründung vom Niederrhein bis an die Memel reichte, nur hinderlich. Im Osten kam hinzu, dass durch die von Stalin betriebene „Westverschiebung“ Polens und die damit verbundene Abtretung der Territorien östlich von Oder und Neiße alte preußische Kerngebiete nicht mehr unter deutscher Hoheit standen und somit ein Fortbestand des Staates die Nachkriegsordnung unmittelbar infrage gestellt hätte. 

Am Tiefpunkt der Geschichte

Und die neuen deutschen Eliten? Sie folgten den Alliierten in deren Preußen-Verdammung überwiegend gern. In der Sowjetischen Besatzungszone (der späteren DDR) aus klassenideologischen Gründen, in den drei westlichen Zonen aus partikularistischen Motiven. Die hier entstehende Bundesrepublik wurde maßgeblich geprägt von den einstigen Mittelstaaten Bayern, Württemberg, Baden, Hannover und Hessen sowie den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, die in den Zeiten des preußisch-österreichischen Dualismus zwischen den beiden deutschen Großmächten lavieren mussten – und nun froh waren, beide los zu sein. 

Nicht zuletzt schien das alte Preußen für immer Geschichte zu sein, weil seine sämtlichen Grundlagen vernichtet waren. Die Monarchie hatte bereits 1918 abgedankt. Durch die Flucht und Vertreibung der angestammten Bevölkerung aus den Kernprovinzen – die ja nicht nur die Deutschen in Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien betraf, sondern auch die alten Eliten in Brandenburg, in der Altmark und in der Provinz Sachsen – war die politische, ökonomische und soziale Struktur in einer Weise zerstört, wie es dies in der Geschichte zuvor nie gegeben hatte. Unzählige Romane, Sachbücher und Artikel haben von dem millionenfachen persönlichen Verlust der Heimat und dem Niedergang der vertrauten ostelbischen Welt aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählt. Die Auflagen von Marion Gräfin Dönhoff, Christian Graf v. Krockow, Siegfried Lenz, Günter Grass, Hans Lipinsky-Gottersdorf, Arno Surminski und Wolf Jobst Siedler (um nur wenige zu nennen) gehen in die Hunderttausende, wenn nicht Millionen. 

Einen der ergreifendsten Texte in der Stunde Null der preußischen Geschichte schrieb 1948 Gottfried Benn. Schlicht „Berlin“ nannte er ein Gedicht, in dem er den ganzen Schmerz über den Zustand seiner Wahlheimatstadt beschrieb: 

„Wenn die Brücken, wenn die Bogen

von der Steppe aufgesogen

und die Burg im Sand verrinnt,

wenn die Häuser leer geworden,

wenn die Heere und die Horden

über unseren Gräbern sind,

Eines kann man nicht vertreiben:

dieser Steine Male bleiben

Löwen noch im Wüstensand,

wenn die Mauern niederbrechen,

werden noch die Trümmer sprechen

von dem grossen Abendland.“

Was Benns Verse neben ihrer Sprachgewalt so besonders macht, ist die darin zum Ausdruck gebrachte Trotzhaltung – das Bewusstsein, dass trotz der Katastrophe der Gegenwart die Zeit davor so viel Reichtum hinterlassen hat, dass die verlorene Welt nie ganz untergehen wird.

Eine stille Renaissance

In der Tat stellt sich heute, ein Dreivierteljahrhundert nach Verkündung des Kontrollratsgesetzes Nr. 46, die Frage, ob das alte Preußen wirklich tot ist? Und zwar tot in dem Sinne, dass dort gar kein Leben mehr ist. Klar ist: Der Staat der Hohenzollern ist Geschichte. Die nach dem Kriege und nach der deutschen Einheit entstandenen Bundesländer sind längst etabliert; der einzige Versuch, vormals preußische Gebiete staatlich wieder zusammenzufügen, ist 1996 mit dem Volksentscheid über die Fusion Berlins und Brandenburgs kläglich gescheitert. 

Jenseits der staatlichen Ebene erscheint Preußen jedoch heute lebendiger als je zuvor in den vergangenen 75 Jahren. Und das nicht nur, weil als preußisch geltende Tugenden wie Pünktlichkeit und Disziplin noch immer positiv besetzt sind und sich viele Deutsche damit identifizieren. Vielmehr hat in den vergangenen dreißig Jahren eine 1989/90 kaum für möglich gehaltene Wiederherstellung zahlloser Elemente des alten Preußen stattgefunden. 

In Berlin sind – um nur wenige Beispiele zu nennen – drei Viertel der Fassade des alten Schlosses als Humboldt-Forum wiedererstanden, wurde die äußere Form der Stadtkommandantur Unter den Linden wiederaufgebaut, erhielt der Stab der Quadriga auf dem Brandenburger Tor sein Kreuz und seinen Adler zurück. In Potsdam residiert der Brandenburger Landtag im wiederaufgebauten Stadtschloss, hat sich gleich nebenan am Alten Markt das Museum Barbarini im gleichnamigen rekonstruierten Palais zu einem der führenden deutschen Kunsthäuser entwickelt, ist die Villa Schöningen aus dem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf im Schatten der Glienicker Brücke erwacht. Von dort hat man zu einer Seite den Blick zur Heilandskirche von Sacrow (die von der DDR nur deshalb nicht gesprengt wurde, weil ihr Turm einen guten Blick über den Todesstreifen zwischen Potsdam und West-Berlin bot) und zur anderen Seite zu Park und Schloss Babelsberg (in dem Bismarck 1862 von König Wilhelm zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde). Allein über die Wiedergewinnung der Berliner und Potsdamer Kulturlandschaft sowie ihrer Umgebung ließen sich ganze Bücher schreiben. 

Zur leisen Renaissance Preußens gehört auch die Heimkehr manch preußischer Familie auf ihr altes Land. Schon in den 90er Jahren beschrieb Karl Feldmeyer die Neuansiedlung der Finckensteins, Marwitze und Hardenbergs, die – trotz anfänglicher Skepsis der ansässigen Bevölkerung – schnell wieder zu prägenden Figuren in Alt-Madlitz, Friedersdorf und andernorts wurden. Dutzende, wenn nicht hunderte weitere Herrenhäuser ließen sich mittlerweile nennen. 

Kulturelle Schatzkammer 

Das wohl erstaunlichste Kapitel dieser Geschichte ist die Rückbesinnung auf das untergegangene Preußen in den alten Kerngebieten östlich von Oder und Neiße, also dort, wo in den Jahrzehnten zuvor staatlicherseits alles Preußische getilgt worden war. Im Hirschberger Tal, in den Wäldern Pommerns und an den Seen Masurens verlieren nun Polen ihr Herz an oftmals ruinöse Herrenhäuser und richten diese mit großer Hingabe wieder zu den Kleinoden her, die sie in deutscher Zeit einmal waren. In Kreisau und Steinort wird an den Widerstand preußischer Adeliger gegen den Nationalsozialismus erinnert. In Marienburg wird die bedeutendste Burg des Deutschen Ordens immer weiter wiederhergestellt und anders als zu kommunistischer Zeit die deutschen Spuren nicht mehr verdeckt, sondern behutsam freigelegt. Im heute russischen Königsberg erstand nicht nur der Dom auf dem Kneiphof wieder, sondern auch die Synagoge gleich gegenüber. Und in Memel schreitet der Wiederaufbau der St. Johanneskirche voran. Auch hier ließen sich inzwischen ganze Bücher über die langsame, aber kontinuierliche Wiedergewinnung einer alten Kulturlandschaft schreiben. 

Und so stellt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung gar nicht mehr die Frage, ob das alte Preußen wirklich untergegangen ist in dem Sinne, dass in ihm kein Leben mehr ist und keine Impulse mehr von ihm ausgehen. Auch wenn Preußen als Staat nicht mehr existiert, auch wenn die meisten Landsleute, die das alte Preußen noch kennengelernt haben, kaum mehr unter den Lebenden weilen, ist dieses Preußen noch immer eine große kulturelle Schatzkammer.