29.03.2024

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Folge 08-22 vom 25. Februar 2022 / Leitartikel / Strategische Schwäche

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-22 vom 25. Februar 2022

Leitartikel
Strategische Schwäche
René Nehring

Es sollte ein erstes Signal der Stärke sein. Nachdem am Montagabend Russlands Präsident Putin die abtrünnigen „Volksrepubliken“ in der Ost-Ukraine als Staaten anerkannte, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz am Tag darauf, er habe das Bundeswirtschaftsministerium gebeten, die nötigen verwaltungsrechtlichen Schritte zu unternehmen, damit vorerst keine Zertifizierung der Gas-Pipeline erfolgen kann. Mit anderen Worten: Nord Stream 2 liegt vorerst auf Eis. 

Abhängig von Dritten 

Wer sich die Umstände und vor allem die Vorgeschichte dieses Schrittes ansieht, kann schnell zu dem Ergebnis kommen, dass Scholz eher ein Getriebener, denn ein souverän Handelnder war. Denn schon Tage zuvor hatte Präsident Joe Biden beim Antrittsbesuch des Bundeskanzlers in Washington verkündet, dass das insbesondere von den USA, Polen und der Ukraine abgelehnte Projekt im Falle einer russischen Aggression beendet sei. Wohlgemerkt bei einem Projekt, an dem sein Land gar nicht beteiligt ist. Angesichts dessen wirkt die nun verkündete Auf-Eis-Legung von Nord Stream 2 wie die Erfüllung der Ansage einer dritten Macht. 

Mit diesem Schritt sind die Probleme des Kanzlers keinesfalls beseitigt. Im Gegenteil. Denn die Pipeline durch die Ostsee ist ja nicht aus Lust und Laune gebaut worden, sondern weil Europa – keineswegs Deutschland allein (!) – auf das dadurch gelieferte Erdgas angewiesen ist. Zwar verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula v. d. Leyen dieser Tage, Europas Reserven seien groß genug, um im Falle eines russischen Lieferstopps gut durch den Winter zu kommen. Doch konnte sie sich diese Aussage nur deshalb leisten, weil es bereits Ende Februar ist und in wenigen Tagen der Frühling beginnt. Würde die Präsidentin auch Ende September solch tapfere Worte wählen? 

Besonders groß sind die strategischen Defizite der Europäer gegenüber Amerikanern und Russen auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Neben der desaströsen Ausstattung der Streitkräfte und dem Desinteresse in den öffentlichen Debatten (Politiker und Medien befassen sich immer erst dann mit Problemen, wenn sie mit Wucht vor der eigenen Haustür auftauchen) gehört dazu vor allem das Unvermögen zu einer eigenständigen Analyse der Lage. Während Russen, Ukrainer und Amerikaner die internationale Öffentlichkeit laufend mit ihren Informationen füttern, fehlt es den Europäern regelmäßig an Möglichkeiten, die Argumente der Konfliktparteien selbstständig bewerten zu können. So konnten sie die wiederholt vorgetragenen Behauptungen der US-Amerikaner über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff Russlands auf die Kern-Ukraine nur glauben oder nicht. 

Wozu Europa? 

Relativ weit am Anfang der Corona-Pandemie erinnerte der damalige Finanzminister und jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz an das gemeinhin Winston Churchill zugeschriebene Zitat, niemals eine gute Krise zu verschwenden. Scholz meinte dies im Sinne des geplanten EU-Zukunftsfonds und der damit verbundenen weiteren Übertragung von Kompetenzen an die Europäische Union. Nun: Auch der gegenwärtige Konflikt im Osten ist ein Konflikt, den die EU nützen könnte, wenn nicht muss. Und zwar im Sinne des Aufbaus eigener, souveräner Fähigkeiten auf strategischen Feldern wie der kritischen Infrastruktur und der Sicherheitspolitik. Hier könnte die Union tatsächlich mehr leisten als es die weitaus kleineren Nationalstaaten jeweils für sich allein könnten. 

Wenn die EU jedoch auf diesen und weiteren Feldern keinen Gewinn für ihre Mitglieder bietet, dann stellt sie sich mehr selbst infrage als es Populisten jemals könnten.