26.04.2024

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Folge 09-22 vom 04. März 2022 / Krieg in Europa / Das Ende vieler Träume und der harte Aufprall in der Realpolitik / Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine reißt die Deutschen aller politischen Lager aus ihren jeweiligen Wunschvorstellungen – und zwingt sie zur Anerkennung lange verdrängter Realitäten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-22 vom 04. März 2022

Krieg in Europa
Das Ende vieler Träume und der harte Aufprall in der Realpolitik
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine reißt die Deutschen aller politischen Lager aus ihren jeweiligen Wunschvorstellungen – und zwingt sie zur Anerkennung lange verdrängter Realitäten
René Nehring

Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat viele Gewissheiten der vergangenen Jahrzehnte zerstört. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs versucht der Machthaber eines europäischen Staates einen Nachbarstaat von der Landkarte zu tilgen. 

Noch ist nicht klar, wie lange der Krieg gehen und wie viele Menschenleben er kosten wird und ob andere Länder mit hineingezogen werden. Klar scheint, dass der russische Präsident Wladimir Putin diesen Krieg nicht gewinnen kann. Selbst wenn – wonach es beim Schreiben dieser Zeilen nicht aussieht – die russischen Invasionstruppen schon bald den Widerstand der tapferen Ukrainer brechen sollten, droht ihnen ein langer, zermürbender Partisanenkrieg. Sicher ist Putin und seinen Invasoren hingegen die jahrzehntelange Verachtung der Ukrainer – und die nahezu vollständige Isolation in der internationalen Staatengemeinschaft.  

Für die Deutschen – und zwar in allen politischen Lagern – markiert der 24. Februar 2022 das jähe Ende vieler Wunschvorstellungen und Selbsttäuschungen. Diejenigen, die sich trotz der KGB-Vergangenheit des russischen Machthabers, trotz seines brutalen Umgangs mit abtrünnigen Gebieten, trotz unzähliger ungeklärter Morde an oppositionellen Politikern und Journalisten und trotz der gewaltsamen Abtrennung der Krim im Jahre 2014 nicht vorstellen konnten, dass Wladimir Putin so weit gehen würde, sehen sich nun eines Schlechteren belehrt. Der Ehrlichkeit halber muss auch der Autor dieser Zeilen eingestehen, dass er einen solchen Akt der Aggression nicht für möglich gehalten hat. 

Allerdings ging es den in den vergangenen Jahren oft als „Russland-Versteher“ Gescholtenen nicht um die Person Putin, sondern um die Verständigung zweier großer europäischer Nationen. Ein solches Ansinnen kann niemals falsch sein. 

Sicherheitspolitische Kehrtwende

Auch sonst hat der Ausbruch des Krieges die Deutschen auf den Boden schmerzlicher Realitäten geholt. Die Bundesregierung etwa widmete in ihrem Koalitionsvertrag der Sicherheitspolitik gerade einmal dreieinhalb Seiten (auf denen das Wort Bundeswehr nicht einmal vorkommt), dem Kapitel „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ hingegen stolze 21 Seiten! 

Immerhin: Bundeskanzler Scholz hat am Sonntag eine fundamentale Kehrtwende angekündigt und als ersten Schritt die Einrichtung eines 100 Milliarden Euro umfassenden „Sondervermögens Bundeswehr“ verkündet. Auch Außenministerin Baerbock, die noch vor zwei Wochen alle deutschen Auslandsvertretungen zu „Agenturen des Kampfes gegen den Klimawandel“ erklärte, ist nun sichtbar bemüht, der neuen Lage gerecht zu werden. 

Die angekündigte Kehrtwende kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sicherheitspolitische Zustand Deutschlands kein Naturereignis war, sondern das Ergebnis einer langen bewussten Vernachlässigung. Deshalb hat auch die oppositionelle Union keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, stellte sie doch seit dem Ende des Kalten Krieges die meiste Zeit über die Bundeskanzler, Verteidigungsminister und Finanzminister. Trotz einer beispiellosen Ausweitung der Aufgaben der Bundeswehr, die die Truppe unter anderem ans Horn von Afrika, auf den Balkan und an den Hindukusch führte, strich der Bund Jahr für Jahr die „Friedensdividende“ ein – bis Deutschland noch nicht einmal bedingt abwehrbereit war. 

Eine weitere Folge der neuen Zeit ist die Wiederentdeckung des europäischen Ostens als politische Landschaft. Seit den Tagen des Kalten Krieges, als führende Köpfe des Westens der eigenen Hemisphäre eine zivilisatorische Höherstellung bescheinigten, galt alles Östliche als rückständig – und wurde entsprechend vernachlässigt. Selbst als mit dem Zerfall von Warschauer Pakt und Sowjetunion zahlreiche neue Nationalstaaten entstanden und viele von ihnen Richtung NATO und EU strebten, änderte dies an der Haltung im Westen wenig. Es wurde erwartet, dass sich Polen, Tschechen, Ungarn und Balten an den westlichen Maßstäben orientierten. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass der Westen die Existenz einer ukrainischen Nation und deren Wunsch nach Souveränität viel zu lange nicht ernst genommen hat. Mögen Kiew, Odessa oder Lemberg auch bedeutende europäische Kulturstädte gewesen sein – für die meisten Westeuropäer waren es bestenfalls Orte kurz vor dem Ural. 

Wie obsessiv die Verdrängung der historischen Landschaften im Osten betrieben wurde, zeigt sich an der vielfachen Missachtung der alten deutschen Orts- und Landschaftsnamen, darunter Königsberg und das nördliche Ostpreußen, die nun zum aktuellen Krisengebiet gehören. Obwohl Königsberg die Heimat bedeutender Persönlichkeiten der eigenen Geschichte war, gebrauchen etliche Deutsche heute lieber den Namen „Kaliningrad“ – ganz so, als könnten sie sich damit einer störenden historischen Last entledigen. 

Nun kommen einige dieser östlichen Landschaften mit Gewalt zurück. Bei allen anstehenden Debatten der nächsten Zeit sollten wir jedoch nicht vergessen, dass es die Menschen in der Ukraine sind, die derzeit am meisten unter den neuen Realitäten zu leiden haben: die Väter und Söhne, die sich den Aggressoren entgegenstellen; die Zivilisten, die in Kiew, Charkiw und andernorts im Hagel russischer Raketen sterben, sowie die Mütter und Kinder, die gerade auf der Flucht gen Westen sind.