29.03.2024

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Folge 09-22 vom 04. März 2022 / Kalter Krieg / Schlug Adenauer 1952 die deutsche Einheit aus? / Vor 70 Jahren wurde mittels der Stalin-Note ein Vorschlag für ein neutrales Gesamtdeutschland unterbreitet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-22 vom 04. März 2022

Kalter Krieg
Schlug Adenauer 1952 die deutsche Einheit aus?
Vor 70 Jahren wurde mittels der Stalin-Note ein Vorschlag für ein neutrales Gesamtdeutschland unterbreitet
Erik Lommatzsch

Zumindest in einem Punkt waren sich die zeitgenössischen Beobachter einig, ebenso wie es die Geschichtsschreibung bis zur Gegenwart ist: Bundeskanzler Konrad Adenauer dachte keine Sekunde darüber nach, auf den Vorschlag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 10. März 1952, der unter der Bezeichnung Stalin-Note ein Begriff geworden ist, in irgendeiner Weise einzugehen. Ebenso wenig wie auf die anschließenden Wortmeldungen aus Moskau vom 9. April, 24. Mai und 23. August jenes Jahres, die man als zweite, dritte und vierte Stalin-Note bezeichnen könnte.

In der (ersten) Stalin-Note, die der stellvertretende sowjetische Außenminister Andrej Gromyko den Vertretern der drei Westmächte vor 70 Jahren übergab, bot der Diktator Josef Stalin den ehemaligen Kriegsalliierten die deutsche Einheit an. Zu den dort formulierten „Grundlagen des Friedensvertrages mit Deutschland“ zählten unter anderem, dass die Besatzungsmächte sämtliche Streitkräfte abziehen, dem „deutschen Volk … die demokratischen Rechte gewährleistet“ werden, und dass sich Deutschland verpflichtet, „keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat“. Eigene „nationale Streitkräfte“ für die Verteidigung sollten gestattet sein.

Das Territorium werde „durch die Grenzen bestimmt, die durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der Großmächte festgelegt wurden“. Eine Vier-Mächte-Konferenz sollte nun abermals zusammentreten, mit einer Regierung Gesamtdeutschlands würden die Kriegssieger dann einen Friedensvertrag abschließen. Vereinfacht ausgedrückt lautete die Botschaft: Stalin sei bereit, die DDR aus einem Herrschaftsbereich zu entlassen, sofern das dann entstehende Gesamtdeutschland strikt neutral bleiben werde.

Meinte Stalin es ernst?

Auf diesen sowjetischen Vorschlag reagierten die Westmächte ablehnend. Die geforderte Neutralität, die Zusage, dass Deutschland kaum nennenswert bündnisfähig wäre, war für sie nicht attraktiv. Vorbehalte gab es auch gegenüber der von Stalin gewünschten Festschreibung der Oder-Neiße-Linie. Moniert wurde ebenso, dass von freien Wahlen nicht die Rede gewesen sei. Diesem Einwand kam Stalin in der folgenden Note deutlich entgegen. 

Letztlich hatte der Notenaustausch – die Westalliierten beantworteten die sowjetischen Ansinnen jeweils abschlägig – für die deutsche Frage keinerlei materiell greifbaren Folgen. Am Ende waren die Fronten des Kalten Krieges noch weiter verhärtet. Als Gegenstand von Diskussionen, die bis heute andauern, hatte die Stalin-Note hingegen von Beginn an eine immense Bedeutung.

Der Zeitpunkt, zu dem der Vorschlag präsentiert wurde, resultierte aus der immer deutlicher werdenden Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis. Die Unterzeichnung des sogenannten Deutschlandvertrages stand an und wurde am 26. Mai 1952 auch Realität. Das Vertragswerk, durch das die Bonner Republik eine Teilsouveränität erlangte, trat in veränderter Form zwar erst 1955 in Kraft, da das französische Parlament 1954 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) als Teil der Vereinbarungen ablehnte, aber letztlich wurde die An- und Einbindung, die Adenauer und die Westmächte wünschten, vollzogen.

Der Streit über die Stalin-Note entzündete sich an der Frage, ob Stalin tatsächlich ein Angebot unterbreitete oder ob es ihm lediglich darum ging, Sand ins Getriebe der Westintegration zu streuen. Zu klären ist dies auch nach Öffnung der Archive nicht eindeutig. 

Auf der Seite der Westalliierten sah man die Initiative durchaus nicht nur als Propagandacoup. So notierte etwa der britische Außenminister Anthony Eden: „Die Sowjets meinen es ernst mit diesem Vorschlag. Er ist zwar nicht ungefährlich für sie; aber unterm Strich würde er ihnen gut in den Kram passen.“ 

Die große Linie, die für das Handeln des Westens maßgeblich war, fasste der französische Politiker Edgar Faure in seinen Erinnerungen zusammen. Danach sei die deutsche Einheit eine Angelegenheit gewesen, „die jeder lautstark forderte und die alle fürchteten wie die Pest“.

Wollte Adenauer die Einheit?

Obwohl die Bundesrepublik zu dieser Zeit keine eigenständige Außenpolitik betreiben konnte und die Note entsprechend an die westlichen Besatzer gerichtet war, wird der Haltung des deutschen Bundeskanzlers entscheidende Bedeutung beigemessen. Der Zeithistoriker Edgar Wolfrum resümiert, „allein Konrad Adenauer“ hätte „Bewegung in die Sache bringen können“, aber er „tat es nicht“. Nahezu unmittelbar nach dem Eingang des sowjetischen Vorschlags hatte er den westlichen Besatzungsmächten seine Loyalität versichert. Unzugänglich zeigte er sich gegenüber jeglicher Überlegung im eigenen Land, die Stalin-Note nicht brüsk zurückzuweisen, sondern wenigstens zu prüfen, ob es sich möglicherweise doch um einen gangbaren Weg zur deutschen Einheit handele. 

Entsprechende Stimmen kamen sogar aus der CDU. So hatten sich unter anderem der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, oder der Unionsfraktionschef, Heinrich von Brentano, für ein differenzierteres, abwägendes Vorgehen ausgesprochen. Auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher plädierte dafür, auszuloten, „ob die Sowjetnote eine Möglichkeit bietet, die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit durchzuführen“. Die „Frankfurter Allgemeine“ mahnte zu prüfen, ob „es die Russen vielleicht doch ernst meinen“.

Adenauers strikte Verweigerung trug dazu bei, dass sich – wohl nicht zu Unrecht – die Ansicht verfestigte, dass er nicht nur die Westintegration vor die Einheit gestellt, sondern an der Einheit an sich wenig Interesse gehabt habe. Entgegen aller Rhetorik habe für ihn das Schicksal der Deutschen auf dem Gebiet der DDR lediglich eine nachrangige Rolle gespielt, zumal die – potentiellen – Wähler des protestantisch und traditionell sozialdemokratisch geprägten Gebietes der von ihm forcierten politischen Marschrichtung eher im Wege gestanden hätten.

Auch in der Jahrzehnte später einsetzenden wissenschaftlichen Debatte wurde keine übereinstimmende Bewertung bezüglich der Stalin-Note erzielt. Davon zeugt ein für Forscher ungewöhnlich emotionaler Ton, der sich in programmatischen Überschriften wie etwa „Die Legende von der verpaßten Gelegenheit“ einerseits oder „Die vertane Chance“ andererseits widerspiegelt.





Kurzbiographien

Edgar Faure war Anklagevertreter bei den Nürnberger Prozessen, Mitglied der Radikalsozialisten sowie 1952 und 1955/56 französischer Premierminister.

Jakob Kaiser war 1946/47 Vorsitzender der CDU der Sowjetischen Besatzungszone und 1949 bis 1957 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.

Der gebürtige Westpreuße Kurt Schumacher war 1946 bis 1952 SPD-Vorsitzender und 1949 bis 1952 Oppositionsführer im Deutschen Bundestag.