25.04.2024

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Folge 09-22 vom 04. März 2022 / Rossitten / Ein Abschied für immer / Mitten im Zweiten Weltkrieg verbrachte eine Mutter mit ihren Kindern einen Winterurlaub auf der Kurischen Nehrung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-22 vom 04. März 2022

Rossitten
Ein Abschied für immer
Mitten im Zweiten Weltkrieg verbrachte eine Mutter mit ihren Kindern einen Winterurlaub auf der Kurischen Nehrung
Gerta Luther

Gut 79 Jahre ist es her, im Kriegswinter 1942/43. Ich stand, von Königsberg kommend, mit meinen drei Kindern, in deren mageren Gesichtern das dritte Kriegsjahr sich schon deutlich abzeichnete, auf dem Bahnhof des kleinen Ostseebades Cranz. Ein kleiner Autobus sollte uns nach dem Fischerdorf Rossitten bringen, mitten auf die Kurische Nehrung, und das im Winter! „Auf solch einen Gedanken kannst auch nur du kommen!“, sagte mein Mann, als ich ihm meinen Plan unterbreitete. Die Kinder hatten alle drei Scharlach gehabt und sollten auf ärztliche Anordnung eigentlich ins Gebirge. Aber welche Mutter reiste wohl im Kriege mit drei Kindern gern weite Strecken, wo täglich feindliche Bomber über unserem Vaterland ihre Bahn zogen! Also musste ein Ausweg gefunden werden. Die verschneiten Wanderdünen von Rossitten sollten uns ein ideales Skigelände bieten, und „Brettel“ hatten wir!

Erholungsurlaub von Scharlach

Der Bus musste eine Panne gehabt haben, denn er ließ uns drei volle Stunden warten. Inzwischen hatte es angefangen, tüchtig zu stiemen. Die Gesichter der Kinder wurden lang und länger. Endlich hörten wir ein unverkennbares Rattern sich immer näher an uns herankämpfen, und wirklich, der heißersehnte Bus stand vor uns. Halbverklammte Menschen stiegen heraus und wünschten uns mit vielsagenden Blicken eine glückliche Reise. Bald hatten wir unser Plätzchen, nachdem die Skier auf dem Dach des Busses angeschnallt worden waren. Nun hieß es noch einmal, Geduld haben, denn der Fahrer, dessen Hände verdächtig schwarz waren – wohl von der Beseitigung einer Panne unterwegs –, musste erst zur Erwärmung drei ostpreußische Grog zu sich nehmen! Dann blitzten die Scheinwerfer auf, und vorwärts ging es in den brausenden Ostwind. Die Kinder versuchten vergebens, ein Loch in das Eis am Fenster zu hauchen. Bald kam das letzte Haus von Cranz. Die ausgefahrenen Löcher auf der Nehrungsstraße wurden immer größer und häufiger. Anfangs machte es den Kindern Spaß, wenn sie so plötzlich von ihren Sitzen in die Höhe geworfen wurden und sich etwas unsanft wieder setzten, allmählich aber empfanden wir diesen Sport etwas schmerzlich. Wir fuhren auf das einsame Fischerdörfchen Sarkau zu.

Von Cranz ging’s mit dem Bus weiter

Schier undurchdringlich schien der die Straße einsäumende Wald zu sein. Gruppen von kleinen Kiefern drängten sich dicht aneinander. Die Schneelast drückte die Kronen fast auf die Erde. Ab und zu lief eine Elchfährte über den Weg. Große Sturmmöwen begleiteten uns schreiend und wendeten sich dann wieder der tosenden See zu. Da endlich tauchte das erste Haus auf. Es war die Jugendherberge. Mit seinen blaugemalten Fensterläden guckte es freundlich in die Schneelandschaft. Nun dauerte es auch nicht mehr lange, da waren wir mitten im tiefverschneiten Fischerdörfchen Sarkau. Erinnerungen an einen hier verlebten Sommer tauchten auf. Hier wurden die Flundern noch mit Kienäpfeln geräuchert. Nachdem sich eine vermummte Fischersfrau mit vielen Paketen aus unserem Bus hinausgeschoben hatte, setzten wir unsere Fahrt fort.

„Zum wilden Elch“ in Rossitten

Es wurde immer ungemütlicher, denn der Wind nahm eher noch an Stärke zu. Die Kinder traten sich die Füße warm und pusteten in die Hände. Mühsam kämpften wir uns die einsame Nehrungsstraße entlang, denselben Weg, den einst Königin Luise auf der Flucht vor Napoleon nach Memel gefahren war. Wenn wir die zur See führenden Schneisen überquerten, packte uns jedes Mal mit voller Wucht der Sturm. Die Kinder wurden von Stunde zu Stunde stiller. Der Fahrer machte uns darauf aufmerksam, dass wir eben an den ersten Häusern von Rossitten vorbeigefahren waren. Wir konnten schon längst nicht mehr aus unseren vereisten Fenstern sehen. Wir mussten aber schon im Ort sein. Hier war die Nehrung breiter, und der auf der Seeseite liegende Wald hielt den Wind gut ab, da wir auf der Haffseite fuhren.

Begegnung mit Segelfliegern

Endlich hielt der Bus vor unserem Gasthaus „Zum wilden Elch“. In der Gaststube luden uns ein warmer Kachelofen und ein runder Tisch zum Abendbrot ein. Noch nie haben Milchsuppe und Bratkartoffeln mit Spiegelei so gut geschmeckt! Dann wanderten wir in unser Zimmerchen. Hier türmten sich riesige Federbetten, und ein kleiner eiserner Ofen versuchte, sein Bestes an Wärme zu spenden. Es dauerte nicht lange, da schliefen auch schon die Kinder in süßer Ruh. Jetzt erst entdeckte ich, dass unser Zimmer zwei winzige Fenster nach dem Haff zu hatte. Eine eigenartige Helle strömte herein. Ich stand leise auf und sah ein bezauberndes Bild. Der Mond schien so friedlich auf das silbern glänzende Haff. Am Ufer schaukelten die schweren, schwarzen Kurenkähne mit ihren holzgeschnitzten Wimpeln. Wie friedlich war es hier, als lebten wir gar nicht in einem furchtbaren Kriege. Hier sollten sich die armen Kinder erholen, dafür wollte ich schon sorgen.

Wanderung nach Kunzen

Die Morgentoilette ging ziemlich schnell vor sich, denn inzwischen war unser Öfchen und also auch unser Zimmer eiskalt geworden. Fröhlich fanden wir uns im warmen Gastzimmer zum Frühstück ein. Die dicke Kaffeekanne dampfte schon auf dem runden Tisch in unserer Ofenecke. Der Sturm hatte in der Nacht nachgelassen, und zwischen den noch jagenden Wolkenfetzen lugte ein klarer blauer Himmel hervor. Der Briefträger sprach sogar von kommendem Sonnenschein. Und er sollte Recht behalten. Bald waren unsere Brettel gewachst, und nun hieß es: Zeigt mal eure Kunst! Damit war freilich nicht allzu viel Staat zu machen. Wir hielten Kurs auf den Schwarzen Berg, das Wahrzeichen Rossittens. Er ist eine mit Krüppelkiefern bepflanzte Wanderdüne, auf deren Höhe sich einsam eine Wetterstation befindet. Wie liebten wir den Schwarzen Berg schon vom Sommer her! Unzählige Grünlinge und Edelreizker hatte er uns geschenkt, sodass wir Mühe gehabt hatten, unseren Pilzsegen nach Hause zu bringen. In seligen Erinnerungen schwelgend, war ich mit den Mädels ein gutes Stück vorwärtsgekommen. „Mutti, bleib mal stehen!“, hörten wir ein Stimmchen hinter uns. Ja, richtig, unser kleiner Fünfjähriger, den hatten wir ja beinahe vergessen! Die Mädels hatten sich schon zur Abfahrt bereitgemacht. Da blieben sie wie angewurzelt stehen und zeigten mit ihren Skistöcken in die Luft. Es kreisten über uns wie große silberne Vögel lautlos Rossittens Segelflieger. Nun sahen wir auch ihren Startplatz und hinter ihm das blaue Haff und die hohen Wanderdünen, die im Sommer so gelb leuchteten. Jetzt gings bergab, und auch der kleine Jochen rutschte hinter uns her, mal kollerte er auch, aber das machte nichts. Der weiche Pulverschnee war zu ertragen, und die Sonne lachte noch immer. Höher und höher wagten wir uns, und wir entdeckten die schönsten Schneisen mit zum Teil steilen Abfahrten. Rossitten ein Skiparadies, wer hätte das gedacht! 

Es stürmte und stiemte tagelang

Bald flog eine warme Hülle nach der andern in den Schnee; wir fuhren in Blusen, da es uns zu warm wurde. Zu Hause in Königsberg hätten wir wohl schon längst bei solcher Sonne Tauwetter gehabt, aber hier an der Küste hielt sich der Schnee gut. Es gab lange Gesichter, als ich um 12 Uhr zum Heimweg aufrief, denn das Mittagessen war fällig. Kaum war das erledigt, da quälten mich alle drei, wieder Skilaufen zu dürfen. Und wirklich, alle waren munter bei der Sache, es ging schon weit besser als vorhin. Immer wieder entdeckten wir neue schöne Abfahrten. Allmählich begann es leise zu schneien, wir mussten wieder zu unseren Pullovern und Schals greifen. Eine Stunde hielten sich die Kinder noch tapfer, doch als das Schneetreiben sich mehr und mehr verstärkte, waren sie nicht böse, dass ich zum Heimweg aufrief. Das Gasthaus „Zum wilden Elch“ zog uns mit magischer Kraft an. Der Kachelofen strahlte eine wohlige Wärme aus, und die dampfenden Pellkartoffeln mit der Specksauce wurden freudig begrüßt. Da tat sich die Tür auf, und etwa zwanzig Segelflieger kamen mit Akkordeonmusik herein. Sie staunten, in dem im Winter so einsamen Gasthaus „Zum wilden Elch“ Gäste vorzufinden, und sie erkannten uns wieder als die Skihasen, die sie aus der Luft auf dem Schwarzen Berge beobachtet hatten. Bald hatten wir Freundschaft miteinander geschlossen, zumal meine Mädels, auch manch flottes Liedchen auf dem Akkordeon spielen konnten. So verging die Zeit im Fluge.

An den Abenden machte ich mit den Kindern immer noch einen Spaziergang durch das Dorf zum Haff. Hier türmten sich die Eisschollen am Ufer auf. Die schweren Kurenkähne waren inzwischen auf Land gezogen worden, denn es sah nicht so aus, als ob in der nächsten Zeit die Kälte nachlassen würde. Auch der berühmten Vogelwarte statteten wir manchen Besuch ab.

Die Kinder hatten sich gut erholt

Eine Wanderung nach dem Fischerdörfchen Kunzen möchte ich noch erwähnen. Man hatte uns in Rossitten die Richtung gezeigt, und so ging es mutig über die verschneiten Felder und Wiesen ohne Weg und Steg. Diesmal wanderten wir ohne Skier. Ein frischer Wind kam auf. Die Sonne war hinter einer grauen Wolkenwand längst verschwunden. Endlich erreichten wir das erste Fischerhaus. Es war fast eingeschneit. Wir fragten uns nach einem kleinen Gasthaus durch und erwärmten uns hier an heißem Kaffee. Kuchen gab es leider nicht. Die wenigen Fischer, die Pfeife rauchend bei einem Grog beisammensaßen, konnten sich nicht genug über unsern Einfall wundern, bei solcher Kälte so eine Wanderung zu machen, und sie ermahnten uns, bald heimwärts zu gehen, denn es hatte inzwischen angefangen zu schneien. Bald waren wir wieder mitten in Schnee und Eis und gingen in Richtung auf Rossitten. Heute denke ich wohl noch mit Schaudern an diesen anstrengenden Weg. Der Wind ging in Sturm über, und es stiemte so, dass wir nur mit Mühe die Richtung auf Rossitten halten konnten. Bald war der eine, bald der andere in einer tiefen Schneewehe eingesunken, und einmal lagen wir auch der Länge nach auf einem gefrorenen Bach. Gott sei Dank kamen wir noch vor dem Dunkelwerden in Rossitten an, wo man schon in großer Sorge um uns war.

Es stürmte und stiemte tagelang, und so fiel uns der Abschied nicht allzu schwer, als uns eines Tages der Bus wieder zur Heimfahrt nach Cranz abholte. Die Kinder hatten sich gut erholt. Allmählich entschwand das geliebte Rossitten unseren Blicken. Wir ahnten damals nicht, dass es ein Abschied für immer sein sollte.