20.05.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 10-22 vom 11. März 2022 / Ende eines Wachkomas / Für die deutsche Sicherheitspolitik bedeutet der Krieg in der Ukraine das Ende einer langen Ignoranz von Realitäten und der Vernachlässigung ihrer Armee. Was die Bundeswehr nun braucht – und welche Einsichten den Deutschen noch bevorstehen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-22 vom 11. März 2022

Ende eines Wachkomas
Für die deutsche Sicherheitspolitik bedeutet der Krieg in der Ukraine das Ende einer langen Ignoranz von Realitäten und der Vernachlässigung ihrer Armee. Was die Bundeswehr nun braucht – und welche Einsichten den Deutschen noch bevorstehen
Josef Kraus

Erlauben wir uns ein gewagtes Gedankenspiel: Wie würde die Ukraine angesichts des Überfalls Wladimir Putins dastehen, hätte sie nicht ihre jetzige Streitmacht, sondern eine Armee, die materiell und personell ein Abbild der Bundeswehr wäre? Wäre die Ukraine besser gerüstet, die eigene Bevölkerung zu verteidigen und das eigene Land von dem Aggressor zu befreien? 

Fest steht: Die Bundeswehr als Streitmacht des bevölkerungs- und wirtschaftsstärksten Landes Mittel- und Westeuropas ist keine starke Streitmacht. Selbst der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, kam wenige Stunden nach Putins Überfall im Netzwerk „LinkedIn“ zu einem vernichtenden Urteil: „… die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da … Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert … Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage, mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen … Ich bin angefressen!“ Respekt, Herr General, solche Stimmen hätten wir häufiger gebraucht. Denn bislang herrschte in der Bundeswehr ein weit verbreitetes Schweigen der mehr als zweihundert Generale/Admirale. 

Kontinuierlicher Niedergang

Ja, die Bundeswehr ist „mehr oder weniger blank“. Wer es wissen wollte, der konnte es wissen. Nehmen wir als Maßstab die Truppenstärke. Sie wurde in der Ära Kohl von 487.000 Soldaten im Jahre 1989 bis Ende 1998 auf 331.000 abgebaut. Nicht mitgerechnet ist die Auflösung der Nationalen Volksarmee (NVA)der DDR mit ihren rund 155.000 Angehörigen. Die Regierung Schröder baute die Bundeswehr auf 252.000 Mann ab. Dann folgten 16 Jahre Merkel, in denen die Bundeswehr auf zuletzt 183.000 Soldaten (2021) dezimiert wurde. 

Parallel zum Abbau der Truppenstärke entwickelte sich auch die Einsatzfähigkeit der sogenannten Hauptwaffensysteme. Aktuelle Folge: Die Bundesregierung verweigerte der Ukraine zunächst militärische Hilfe. Aus Gründen des „Nie wieder“, aber wohl auch deshalb, weil sie erst einmal Bilanz ziehen musste, was sie denn überhaupt liefern konnte. Außer 5000 Stahlhelmen und einem Feldlazarett nichts? Kiews Oberbürgermeister Klitschko fragte pikiert, wann 5000 Kopfkissen kämen. Tatsächlich kann die Bundeswehr kaum Einsatzfähiges liefern. Großgerät ohnehin nicht. Immerhin sind mittlerweile folgende Lieferungen zustande gekommen: 1000 Stück „Panzerfaust 3“, 500 Stück Boden-Luft-Raketen des Typs „Stinger“ und 2700 Stück „Strela“- Flugabwehrraketen. Letztere haben es in sich: „Strela“ (russisch für „Pfeil“) stammen aus russischer Produktion und waren im Bestand der NVA. In der Bundeswehr sind sie seit 2012 für eine Nutzung gesperrt, weil rund ein Drittel gefährliche Haarrisse aufweist. 

Wie aber schaut es generell mit der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr aus? Im „14. Rüstungsbericht“ des Generalinspekteurs vom 13. Januar 2022 heißt es geschönt: „Die Bundeswehr ist in der Lage, ihre Aufgaben kurzfristig, flexibel und gemeinsam mit unseren Verbündeten innerhalb sowie auch außerhalb Deutschlands zu erfüllen.“ Die Probleme werden dann auf insgesamt 119 Seiten beschrieben: „Die materielle Einsatzbereitschaft aller 71 Hauptwaffensysteme hat sich im Berichtszeitraum insgesamt verstetigt und in einigen Bereichen leicht verbessert. Sie liegt mit durchschnittlich 77 Prozent geringfügig über den 76 Prozent aus dem letzten Bericht. Unsere Zielgröße von 70 Prozent durchschnittlicher materieller Einsatzbereitschaft übertrafen hierbei 38 Hauptwaffensysteme, 11 lagen unter 50 Prozent … Die durchschnittliche materielle Einsatzbereitschaft von Kampffahrzeugen lag bei 71 Prozent, für Kampfeinheiten der Marine bei 72 Prozent, für die Kampf- und Transportflugzeuge bei 65 Prozent, für alle Unterstützungsfahrzeuge (Logistik, Sanität und CIR) bei 82 Prozent und bei den Hubschraubern weiterhin bei 40 Prozent.“ Der Gesamtbestand des Kampfpanzers Leopard 2 umfasst 289 Panzer, verfügbar sind 183 – das sind gerade einmal 64 Prozent. Bis hinein in die 1990er Jahre hatte die Bundeswehr übrigens 2800 Leo-Panzer. Einsatzprobleme gibt es auch beim Schützenpanzer Puma. Von den 350 neu (!) angeschafften Panzern ist ein Drittel (noch) nicht einsatzfähig. 

Aufgewacht aus dem Wachkoma?

Nun scheint Deutschland seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine aus einem Wachkoma aufgewacht. Wie lange dieser Wachzustand vorhält, wissen wir nicht. Immerhin lautet die regierungsamtliche Losung jetzt: Wir müssen der Bundeswehr mit 100 Milliarden „Sondervermögen“ (= neue Schulden) unter die Arme greifen. Und wir wollen die NATO-Vereinbarung erfüllen, ja übererfüllen, und mehr als zwei Prozent unseres Bruttosozialprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben. 

Man vergesse darüber nicht: Nach 16 Jahren Merkel-Regierung mit fünf CDU/CSU-Verteidigungsministern brachte man es gerade eben auf einen BIP-Anteil von 1,57 Prozent und damit zu einem hinteren Platz im NATO-Ranking. Allerdings sind diese 1,57 Prozent dem Konjunktureinbruch durch die Corona-Krise geschuldet. Vor der Krise war eine Quote von 1,42 Prozent erwartet worden. 

Von 2013 bis 2019 hatte die Kanzlerin eine Ministerin von der Leyen gut fünf Jahre als Chefin installiert, die der Bundeswehr wegen marginaler Vorfälle ein „Haltungsproblem“ vorhielt, die Kitas in den Kasernen errichtete, Uniformen für schwangere Soldatinnen kaufen ließ und selbst in der Bundeswehr den Gender-Murks installierte, die 200 Millionen Euro für „Beraterdienste“ ausgab, die ein funktionsfähiges Gewehr einziehen ließ (165.000 Stück G36) und für all dies zur Präsidentin der EU-Kommission befördert wurde.

Was die Bundeswehr braucht

Erstens: Die Bundeswehr braucht sicher mehr Geld – für Fahrzeuge, Flugzeuge und Schiffe. Aber die Strukturen der Bundeswehr müssen so gestrafft werden, dass das Geld gezielt eingesetzt werden kann. Von den 100 Milliarden, die neu in die Bundeswehr fließen sollen, muss wohl die Hälfte in die Personalrekrutierung gehen. Denn die Bundeswehr hat Nachwuchsprobleme. Schließlich hatte das umstrittene Aussetzen der Wehrpflicht im Jahr 2011 zu einer Ausdünnung des Bewerber-Pools geführt. Aktuell sind jetzt schon rund 20.000 Dienstposten nicht besetzt, außerdem soll die Personalstärke von aktuell 183.000 bis 2025 auf 203.000 aufgestockt werden. Das gelingt nur, wenn der Dienst in der Truppe wieder attraktiver wird. Zudem muss die Bundeswehr Abschied nehmen von ihrer Kopflastigkeit. Es passt nicht zusammen, dass die deutsche Armee 1989 bei fast 500.000 Mann rund 200 Generale/Admirale hatte und jetzt bei 183.000 Mann ebenfalls mehr als 200 Generale/Admirale.

Zweitens: Kriege der Zukunft – teilweise jetzt schon – werden Hybrid-, Cyber- und Hyperkriege sein – nicht nur zu Lande, in der Luft und auf See, sondern auch im „Cyberspace“ und im Weltraum. Es wird zu einer „5-D-Kriegführung“ kommen, nämlich zu einer gleichzeitigen Nutzung von Desinformation, Deception, Disruption, Destabilisierung, Destruction und schließlich, als sechstes D, durch Disease, also absichtlich herbeigeführte Krankheiten. Hier geht es einem Feind darum, die IT-Infrastruktur eines Landes zu stören – beziehungsweise umgekehrt gegen solche Angriffe zu verteidigen. In der Bundeswehr wurde hierfür 2017 der „Organisationsbereich Cyber und Informationsraum“ (CIR) geschaffen. Die Bundeswehr ist dennoch für „Cyber“ unzureichend gerüstet. Es fehlt zudem an der Koordination mit dem Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik (BSI), dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Zivilschutz. Vor allem fehlt es an Fachleuten, weil diese auf dem freien Markt weitaus attraktiver entlohnt werden.

Drittens: Das sogenannte Beschaffungswesen ist mit fast 10.000 Beschäftigten im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz und nachgeordneten Dienststellen angesiedelt. Dieses Amt ist zu schwerfällig, wie man an der eklatant mangelnden Ersatzteilbevorratung und an zu geringen Munitionsbeständen erkennt. 

Viertens: Bisherige europäische, transnationale Rüstungsprojekte wurden zu „Never-ending Stories“ und zu Milliardengräbern. Der Kampfjet „Eurofighter“ (beteiligt: Spanien, Italien, Großbritannien, Deutschland) wurde ab 1986 geplant und 2004 in Dienst gestellt. Der Lufttransporter A400M wurde ab 1991 von sieben europäischen NATO-Ländern konzipiert. Die erste A400M-Maschine wurde 2014 an die Bundeswehr ausgeliefert. Und selbst danach ging lange Zeit nichts ohne Nachbesserungen und Pannen ab. Womit sich die Frage stellt: Setzt man auf neue europäische Gemeinschaftsprojekte, deren Realisierung endlos dauert, oder kauft man bewährte Systeme aus den USA, etwa den F-35 als Nachfolger des „Tornado“?

Bedeutung der Bündnisstrukturen 

Und die NATO, wie ist ihr Zustand, hat sie eine Zukunft? Vor rund zwei Jahren zumindest erklärte sie der französische Staatspräsident Macron für „hirntot“. Welch unvorsichtiges Wort, das natürlich bei einem Putin ankam! Dennoch: Die NATO bleibt unverzichtbar, und die USA müssen dabei das Rückgrat des Bündnisses bleiben. Die NATO ist seit Putins Überfall auf die Ukraine notwendiger denn je. Zugleich muss sich Europa – im Verein mit den USA – im wahrsten Sinn des Wortes rüsten. Nicht nur wegen des Krieges in der Ukraine, sondern wegen der baltischen Staaten, der Ostsee, des Nordmeeres sowie des Mittelmeerraums, wo Russland via Syrien, aber auch Terrorgruppen an Macht gewinnen. Selbst die bislang neutralen Staaten Finnland und Schweden sind aufgeschreckt und wollen womöglich Mitglied der NATO werden.

Das heißt: Wir brauchen ein Europa, das sich endlich seiner Sicherheit in einer alles andere als friedlichen Welt widmet und bei allen Lippenbekenntnissen zur transatlantischen Gemeinschaft aufhören muss, sich auf ewig auf die USA (und die dortigen Steuerzahler) zu verlassen. Europa muss zudem die aggressive wirtschaftliche und zugleich militärische Expansionspolitik Chinas in den Blick nehmen. Europa muss erkennen, dass die USA im Fernen Osten gebunden sein werden und dass die Amerikaner ihre europäischen Partner ohne deren eigene große Anstrengungen auf Dauer nicht werden verteidigen können. 






Josef Kraus war von 1991 bis 2014 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung des Bundesministers der Verteidigung. Zusammen mit Richard Drexl veröffentlichte er 2019 „Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reform-ruine“ (Finanzbuch-Verlag, 2., vollständig überarbeitete Auflage 2021).