20.05.2024

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Folge 10-22 vom 11. März 2022 / Debatte / Putin vor Gericht?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-22 vom 11. März 2022

Debatte
Putin vor Gericht?
Reinhard Olt

In den vergangenen Tagen ist mancherorts die Meinung geäußert worden, der von Russlands Präsident Putin gegen die Ukraine geführte Krieg wäre vermieden worden, wenn die Konflikte um die Krim sowie die Ost-Ukraine durch Anwendung des in Art. 1 der Menschenrechtspakte verankerten Selbstbestimmungsrechts friedlich gelöst worden wären. Und zwar dadurch, dass man die Bevölkerung in einer demokratischen Abstimmung gefragt hätte, was sie will und den ethnischen Minderheiten umfangreiche Schutzmaßnahmen angeboten hätte. Dazu ist nüchtern festzustellen: 

Die Bevölkerung der Ukraine hat sich im Dezember 1991 in einem klaren Akt international anerkannter Selbstbestimmung für die staatliche Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Souveränität ihres Landes ausgesprochen. Diese Selbstbestimmung wird etwa den Südtirolern bis heute nicht zugestanden! Zwischen Lemberg im Westen und Lugansk im Osten, zwischen Tschernigow im Norden und Sewastopol auf der Halbinsel Krim im Süden votierten in der Abstimmung vom 1. Dezember 1991 (bei einer Beteiligung von 84,18 Prozent) 92,26 Prozent aller 37.885.555 Stimmberechtigten für die Souveränität der Ukraine. 

Auch die Bevölkerung in der Ost-Ukraine, wo ethnische Russen die Mehrheit bilden, stimmte mit überwiegender Mehrheit dafür: so in den Verwaltungsgebieten Donezk (83,90 Prozent; Wahlbeteiligung 64 Prozent) und Lugansk (83,86 Prozent; Wahlbeteiligung 68 Prozent) sowie auf der (2014 von Russland einverleibten) Krim (54,19 Prozent; Wahlbeteiligung 60,0 Prozent). Die Halbinsel hatte in der Ukraine den Status einer autonomen Republik. Das Selbstbestimmungsrecht war damals ebenso unbestritten ausgeübt worden, wie es Schutzmaßnahmen für die ethnischen Minderheiten gegeben hat. 

Ganz offensichtlich haben weder die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts noch Volksgruppen-Schutzmaßnahmen den nunmehr von Wladimir Wladimirowitsch Putin vom Zaun gebrochenen Krieg, den er und seinesgleichen beschönigend „militärische Spezialoperation“ nennen, vermieden. Putins geopolitische Motive rühren von seinem russo-zentristischen Geschichtsbild her, welches der Ukraine die Eigenständigkeit als Nation und Staat a priori abspricht. Dies hat er in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 unmissverständlich dargelegt. 

Putin tritt mit seinem Angriffskrieg das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen. Dafür müsste er sich eigentlich verantworten. So wie sein südslawischer „Bruder“ Slobodan Milošević wegen der Angriffskriege der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) weiland gegen Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und das Amselfeld/Kosovo polje. 

Forderungen nach Putins Verantwortung vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag sind längst lautgeworden. So erklärte Premier Boris Johnson im britischen Unterhaus: „Was wir schon jetzt von Wladimir Putins Regime gesehen haben bezüglich der Nutzung von Kampfmitteln, die sie bereits auf unschuldige Zivilisten abgeworfen haben, das erfüllt aus meiner Sicht bereits vollkommen die Bedingungen eines Kriegsverbrechens“. Johnsons Regierungssprecher fügte hinzu, formal sei es Sache internationaler Gerichte, die Frage möglicher Kriegsverbrechen zu klären. 

„Den Haag“ ermittelt bereits

Tatsächlich hat der IStGH bereits angekündigt, dies vorzunehmen. Am 28. Februar kündigte Chefermittler Karim Khan an, der IStGH werde „so schnell wie möglich“ eine Untersuchung zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine in Gang setzen. Es gebe „hinreichende Gründe für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden“. 

Doch ob es tatsächlich zu einer Anklage sowie einem Verfahren gegen Putin et alii kommen wird, ist fraglich. Weder Russland noch die Ukraine gehören zu den 123 Unterzeichnerstaaten des sogenannten Römischen Statuts vom 17. Juli 1998, auf dem die Zuständigkeit des IStGH beruht; trotzdem kann ermittelt werden.

Russland hatte das Statut seinerzeit zwar unterzeichnet, es aber nicht ratifiziert. 2016 zog es seine Unterschrift wieder zurück. Offenbar wollte es bereits von der damaligen Chefanklägerin des IStGH angedeuteten Ermittlungen wegen der Annexion der Krim (2014) sowie der Involvierung in die Ausrufung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch dortige russische Separatisten (2014) ebenso aus dem Weg gehen, wie es sich damit vorsorglich gegen mögliche Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Einsatz seiner Luftwaffe in Syrien wappnete. 

Indes könnten die Vereinten Nationen eigens einen Ad-hoc-Strafgerichtshof – analog dem UN-Kriegsverbrechertribunal („Haager Tribunal“) in der Causa Jugoslawien – einsetzen. Russland wird dagegen als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats gewiss sein Veto einlegen. Ob es China, ebenfalls ständiges Mitglied des Gremiums, ihm gleichtut, hängt wohl von der weiteren Entwicklung im Ukraine-Krieg ab. Bemerkenswerterweise hat sich China, das sich für die Unverletzlichkeit der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine aussprach, in der Abstimmung über die Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Verurteilung Russlands wegen des Kriegs der Stimme enthalten.

Grundsätzlich kann vor dem IStGH jeder angeklagt werden, auch Staatschefs, da es vor diesem Gericht keine wie auch immer geartete Immunität gibt. Milošević, ehedem Präsident Serbiens, war das erste vormalige Staatsoberhaupt, gegen das ein internationales Gerichtsverfahren geführt wurde. Er war vor besagtem, eigens wegen der Jugoslawien-Kriege eingeführten „Haager Tribunal“ wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermords angeklagt. Ebenso General Ratko Mladić, Kommandeur der bosnisch-serbischen Armee und Hauptverantwortlicher für das Massaker von Srebrenica 1996; er wurde 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt. Dasselbe gilt für Radovan Karadžić, den einstigen Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien-Herzegovina, der 2019 wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Milošević wurde man indes nur habhaft, weil ihn der (später ermordete) serbische Regierungschef Zoran Djindjić festnehmen und nach Den Haag ausliefern ließ. Doch vor seiner Verurteilung starb Milošević 2006 in Haft.

Gegen einen amtierenden Staatschef wurde indes erst einmal ein internationaler Haftbefehl vom ISTGH erlassen: 2009 gegen den Sudanesen Omar al-Baschir. Dieser wurde trotz entsprechender Zusage der sudanesischen Regierung (2020) bis heute nicht ausgeliefert. Umso weniger müssen Putin und/oder andere am Militärschlag gegen die Ukraine Hauptbeteiligten fürchten, von Moskau als Kriegsverbrecher nach Den Haag ausgeliefert zu werden. 






Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt war von 1985 bis 2012 Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und von 1994 bis zu seinem Ausscheiden deren politischer Korrespondent in Wien. Er hatte Lehraufträge an diversen deutschen und österreichischen Hochschulen inne.