20.05.2024

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Folge 10-22 vom 11. März 2022 / Stimmungsbilder aus Russland / Über Nacht Angehörige eines „Schurkenstaates“ / Kollektivschuld der Russen? Bürgern droht wegen des Ukrainekriegs nicht nur der Verlust ihres Wohlstands, sondern auch ihres Ansehens in der freien Welt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-22 vom 11. März 2022

Stimmungsbilder aus Russland
Über Nacht Angehörige eines „Schurkenstaates“
Kollektivschuld der Russen? Bürgern droht wegen des Ukrainekriegs nicht nur der Verlust ihres Wohlstands, sondern auch ihres Ansehens in der freien Welt
Manuela Rosenthal-Kappi

Der Schock über den Kriegsausbruch mitten in Europa sitzt tief – nicht nur im Westen, sondern auch in der russischen Bevölkerung. Noch eine Woche vor Beginn  der „militärischen Operation“ in der Ukraine, wie Putin seinen Überfall nennt, hätte niemand damit gerechnet, dass dies wirklich passieren könnte.

„Meine Cousine Aljona aus dem Donbass haben wir in unserer Datscha südlich von Moskau untergebracht. Kaum, dass sie da angekommen war, erreichte sie die schreckliche Nachricht vom Tod ihres achtjährigen Enkels Dima. Aljonas Tochter Irina war mit dem Sohn in der Ukraine geblieben, weil sie Ärztin ist und dort gebraucht wurde. Ich kann es kaum ertragen, all die negativen Nachrichten im Fernsehen anzusehen. Ich versuche erst gar nicht die Sender Rossija 1 und Pervij Kanal einzuschalten“, sagt die 66-jährige Moskauerin Galina Suworowa.

Die beiden Staatssender berichten rund um die Uhr über die „Militäroperation“, wobei in erster Linie die Gräueltaten der Ukrainer gezeigt werden, und verbreiten die Sicht des Kreml. Die ständige Berieselung dürfte dazu beitragen, dass die Mehrheit der Russen immer noch glaubt, dass Putin keine andere Wahl geblieben sei, als die Ukraine anzugreifen, und dass er den Menschen im Donbass helfen wolle, die schon seit acht Jahren unter erbärmlichen Kriegsbedingungen leben mussten.

Rückzug ins Private

Viele Russen fühlen sich in einer verzweifelten und depressiven Verfassung angesichts der völlig veränderten Realität, in der sie über Nacht zu Angehörigen eines Aggressors wurden. Ganz gleich, wie der Krieg ausgehen wird, sie spüren, dass ihre Zukunft völlig ungewiss ist und keine gute sein wird. Ein Gefühl der Hilflosigkeit und einer bleiernen Schwere macht sich breit. 

Wie Galina geht es vielen Otto-Normal-Bürgern in Russland. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie, die besonders in den Großstädten zahlreiche Opfer gefordert hat, fehlt ihnen die Kraft, einen Krieg, dazu noch gegen ein Volk, in dem viele Verwandte haben, zu verarbeiten. Die alleinstehende Galina verlor zudem noch während der Pandemie ihre gut bezahlte Stelle in einem Import-/Export-Unternehmen. Da sie schon längst im Rentenalter ist, das für Frauen in Russland mit 60 beginnt, fand sie nur noch eine geringfügige Beschäftigung. Betrug ihr Einkommen zu Kriegsbeginn noch umgerechnet 350 Euro, waren es aufgrund des Rubelverfalls eine Woche später nur noch gut 200 Euro.

Bürger, die vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion profitierten und sich als einigermaßen wohlsituiert wähnten, sehen sich nun in einer ähnlichen Situation wie ihre Eltern Anfang der 1990er Jahre: zum Sterben zu jung, zum Leben zu alt. Den Verlust ihres derzeitigen Vermögens werden sie nie wieder aufholen können. Wie Galina ziehen sich auch viele ihrer Freundinnen ins Private zurück. Sie beschäftigen sich mit der Pflege ihrer betagten Eltern, mit eigenen Krankheiten und sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder. Viele reiche Russen hatten in der Vergangenheit ihre Söhne und Töchter im Ausland studieren lassen, wo sie nicht selten wegen besserer Arbeitsmöglichkeiten geblieben sind. Auch heutigen Studenten drohen Schwierigkeiten. Wegen des Ausschlusses russischer Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT und der Sperrung ihrer Visa- und Masterkarten können ihre Eltern sie nicht mehr mit Geld versorgen.

Fernsehen versus Internet

Es sind überwiegend junge Menschen, die gegen den Krieg auf die Straße gehen. In allen größeren Städten des Landes kam es zu Demonstrationen mit zahlreichen Festnahmen. Der Anthropologe Alexander Asmolow sieht die Gefahr, dass daraus ein Generationenkonflikt entsteht. Die Jugend wünscht sich längst eine andere Führung als die Putins, mit dem sie aufgewachsen sind. Sie vertraut eher den Nachrichten aus dem Internet als denen der Staatssender. Der Krieg vertiefe die Polarisierung der politischen Ansichten, da er niemanden kalt lasse, so Asmolow.

Besondere Lage

Dass dem so ist, davon konnte sich Natalia Romanova überzeugen, die sich im Königsberger Gebiet aufhielt, als am 24. Februar der Krieg begann. Sie traf eine Ukrainerin, die schon lange in der Exklave lebt und Putin-Anhängerin ist, weshalb ihre Kinder kein Wort mehr mit ihr wechseln.

Auch für die Inhaberin des Hamburger Reisebüros RusslandReisenRomanova kam der Angriff auf die Ukraine völlig überraschend. Sie wurde Zeugin. wie die Menschen im Gebiet die Situation erlebten. Obwohl der Gouverneur des Gebiets, Anton Alichanow, versuchte, die Bürger zu beruhigen, kam es zu Panikkäufen. In einigen Läden wurden Grundnahrungsmittel bereits knapp. Wie in anderen Städten auch, versorgten sich aufgeregte Bankkunden mit US-Dollar und Euro, bis die Automaten nichts mehr ausspuckten.

In Krisenzeiten wird den Bewohnern des nördlichen Ostpreußen ihre Exklavenlage besonders bewusst. Viele haben Angst, dass sie bald völlig isoliert sein werden. Noch ist es möglich, sich mit allem Notwendigen zu versorgen, aber wie es in zwei Wochen aussieht, ist völlig ungewiss. 

Tragen alle Russen die Schuld?

Bei ihrer Rückkehr nach Hamburg musste Romanova feststellen, dass sich auch hier etwas verändert hatte, als einige ihrer deutschen Freunde sie dafür anfeindeten, dass sie Russin ist und Erklärungen von ihr verlangten. „Ich selbst verurteile diesen Krieg, aber die meisten Russen, mit denen ich gesprochen habe, sind immer noch für Putin. Ich kann das nicht erklären, dazu habe ich zu wenig Ahnung von Politik“, sagt die junge Frau der PAZ. Sie beklagt, dass die Bereitschaft zuzuhören verloren gegangen sei. 

Ein vielfach angeführtes Argument der Putin-Anhänger ist, dass er das Leiden der Menschen in Lugansk und Donezk beenden wolle, für das sich im Westen jedoch niemand interessiere. Übersehen wird auch gerne, dass neben den Demonstranten selbst russische Oligarchen sich gegen Putins Krieg ausgesprochen haben und Hunderttausende Russen sämtlicher Berufsgruppen ihre Unterschrift unter Antikriegs-Petitionen gesetzt haben.