20.05.2024

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Folge 11-22 vom 18. März 2022 / Für eine neue Kultur strategischen Denkens / Der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert den lange gehegten Glauben an eine auf Werten und Regeln gestützte Weltordnung. Vor allem die Europäer müssen wieder lernen, auch in anderen Kategorien zu denken

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-22 vom 18. März 2022

Für eine neue Kultur strategischen Denkens
Der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert den lange gehegten Glauben an eine auf Werten und Regeln gestützte Weltordnung. Vor allem die Europäer müssen wieder lernen, auch in anderen Kategorien zu denken
Herfried Münkler

Im Vorstellungsgefüge einer neuen Weltordnung war für strategisches Denken in den vergangenen Jahren kein Platz mehr. Im Prinzip war die Strategie durch die Leitvorstellung einer auf Regeln und Werte gestützten Ordnung aufgezehrt worden, in der Konfrontation in Kooperation verwandelt werden sollte. Wo noch von Strategie die Rede war, ging es entweder um die Aufstellung von Unternehmen in Konkurrenz zu anderen Marktteilnehmern oder um die Planung persönlicher Lebensführung: Strategie als Anleitung zu einer möglichst erfolgreichen Karriere, als ertragreiche Anlage des eigenen oder fremden Vermögens oder als aufmerksamkeitswirksame Platzierung von Gütern und Ideen. 

Zugestanden: Auch in der Politik war von Strategien mitunter die Rede, aber dann zumeist im Hinblick auf das Agieren der Parteien im Wettbewerb um Wählerstimmen – und nicht oder nur ganz selten mit Blick auf Bedrohungen des demokratischen Rechtsstaats. Dass eine konfrontative Lage zwischen den Demokratien westlicher Prägung – also De-mokratie plus Gewaltenteilung und Pressefreiheit – und einem autokratischen Regime in all seinen Varianten entstanden war, wurde zwar gelegentlich konstatiert, aber nur selten als Herausforderung beschrieben, die eine strategische Antwort erforderlich machte. Wer von Strategie sprach, wurde als ein Fossil der Real- wie Ideengeschichte angesehen.

Ruinen einer neuen Weltordnung

Nun ist im Osten Europas dieses „alte Denken“ mit Panzern und Artilleriegeschützen, Raketen und Bombenflugzeugen in die schöne neue, aber offensichtlich doch nur imaginierte und letzten Endes nicht verteidigungsfähige Ordnung der Regeln, Werte und Normen eingebrochen – und es ist von der auf Regeln und Werte gegründeten Ordnung kaum etwas übriggeblieben. Der Westen hat sich – in Anbetracht der unüberschaubaren Eskalationsrisiken mit guten Gründen – auf seine institutionelle Kerngestalt zurückgezogen und die universalen Geltungsansprüche der globalen Ordnung im Stich gelassen. Als es ernst wurde, galt die Werteverteidigung nur noch für Mitgliedstaaten der NATO, und das Budapester Memorandum, in dem die USA und Russland 1994 die Unversehrbarkeit der ukrainischen Grenze garantiert hatten – im Gegenzug dazu, dass die Ukraine die ihr aus der Konkursmasse der Sowjetunion zugefallenen Nuklearwaffen an Russland abgab –, war nur noch eine wertlose Sammlung unterschriebenen Papiers. 

Putin hatte seiner Verachtung für die Weltorganisation in New York Ausdruck verliehen, als er noch während der Sitzung des UN-Sicherheitsrates zum russischen Truppenaufmarsch den Befehl zum Angriff gab. Die UN ist das Zentralorgan der regelbasierten und wertegestützten Weltordnung. Auf sie hat vor allem die deutsche Politik gesetzt. Sie wird sich neu orientieren müssen. 

Dabei hatte es gute Gründe gegeben, an der Idee dieser neuen Weltordnung so lange wie möglich festzuhalten. Denn in ihr sollte die Konkurrenz der großen Mächte durch eine gemeinsame Konzentration auf Menschheitsaufgaben abgelöst werden: den Hunger in der südlichen Hemisphäre, die Migrationsbewegungen infolge von Bürgerkriegen und Dürrekatastrophen und vor allem den Klimawandel, der, wenn er nicht gestoppt würde, menschliches Leben auf dem Planeten Erde in Frage stellen würde. Aus dem rhetori-schen „Wir“ der Menschheit sollte ein handlungsmächtiges Subjekt werden, das diese Herausforderungen bearbeiten konnte. 

Doch dazu war es nötig, weltweit Konfrontation in Kooperation zu transformieren und „Nullsummenspiele“ in „Win-Win-Konstellationen“ zu verwandeln. Dafür bedurfte es freilich des Vertrauens, dass sich die Beteiligten an die Regeln halten würden. Je stärker eine Ordnung normativ – also an Regeln orientiert – aufgeladen ist, desto mehr ist sie auf einen durchsetzungsfähigen Hüter angewiesen – doch den gab es nicht: Die Vereinten Nationen waren dafür zu schwach, und die USA als Zwischenlösung hatten zu viele Eigeninteressen. Blieb also nur die Sicherung des Vertrauens durch wechselseitige Abhängigkeit, etwa bei Rohstofflieferungen und ähnlichem, und in diesem Sinne kann man die Erdgasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 als politische Vertrauensgaranten begreifen.

Verlerntes Denken 

Sie haben nicht gehalten, was man sich von ihnen versprochen hat: Die Androhung von Wirtschaftssanktionen hat Putin nicht vor dem Einsatz militärischer Gewalt zurück-schrecken lassen, wirtschaftliche Macht hat militärische Macht nicht aus dem Spiel ge-nommen, und damit ist das Projekt einer neuen Weltordnung zur Ruine geworden. Olaf Scholz hat zuletzt von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Die deutsche Politik, sollte der Begriff Zeitenwende sagen, hat realisiert, dass es mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ein „Davor“ und „Danach“ gibt und dass man aus dem Danach so schnell nicht mehr ins Davor zurück kann. 

Damit war die Herausforderung des strategischen Denkens wieder da. Aber strategisches Denken hatte man im Vertrauen auf die neue Weltordnung hierzulande verlernt. Heißt: Es geht jetzt nicht nur darum, den Etat des Verteidigungsministeriums deutlich aufzustocken, sondern es ist auch eine Veränderung der Mentalität und des Denkens vonnöten. Der Mentalitätswandel wird länger brauchen, die Veränderung des Denkens dagegen muss schnell erfolgen, wenn man denn nicht ein weiteres Mal von Putin oder anderen Autokraten seines Schlages an der Nase herumgeführt werden will, wie in den Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine.

Man kann den jetzt erforderten kognitiven Wandel an einem Beispiel verdeutlichen: Noch vor dem Angriffsbefehl auf die Ukraine hatte Putin eine geschichtspolitische Erzählung lanciert, in der es um die Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland ging. Damit war die staatliche Selbstständigkeit der Ukraine in Frage gestellt. In Deutschland hat man sich umgehend damit beschäftigt, ob Putins Geschichtsklitterung zutreffend sei, aber man hat sich nicht oder nur nebenbei gefragt, wozu Putin diese Geschichte erzählt hat – und was es bedeuten würde, wenn auch andere damit begännen, mit historischen Zugehörigkeitserzählungen Politik zu machen. Letzteres war die Frage nach der politischen Strategie. 

Putins Geschichtspolitik hatte den Zweck, den Willen einer deutlichen Mehrheit der Ukrainer zu konterkarieren, indem er die Geschichte als eine übergeordnete Größe gegen ihre auf dem Majdan und bei Wahlen getroffene Entscheidung für den Westen mobilisierte. Dass dies eine Geschichte der Eroberung und Unterdrückung war, sagte er nicht. Was er tatsächlich sagte, lautete: Was bedeutet schon der Mehrheitswille der jetzt Lebenden gegenüber den vielen Generationen, die zuvor mit den Russen und in Russland gelebt haben? Das war Geschichtspolitik zum Zwecke der Aushebelung exakt jener Regeln und Werte, die dem westlichen Verständnis der globalen Ordnung zugrundeliegen. 

Wenn Erzählungen zu Politik werden

Vergleichbare Erzählungen in Westeuropa würden auf das Ende der Europäischen Union hinauslaufen: Wenn führende Politiker erzählen würden, was einmal ihrem nationalen Kulturkreis zugehört hatte, verbunden mit der imperativischen Anmutung, dass es so wieder sein solle, wären Krieg und Bürgerkrieg auch hier die Regel. Strategisches Denken fragt nicht zuerst nach dem „wie oder was“, sondern nach dem „wozu“ solcher Narrative, und die Thematisierung der Geschichtspolitik wechselt damit aus dem Feuilleton in den politischen Teil der Zeitungen.

In einer durch strategisches Denken geprägten politischen Kultur herrscht nicht Vertrauen, sondern generalisiertes Misstrauen vor. Es ist in ihr nicht länger opportun, bei der Analyse von Optionen anderer Akteure die „Worst Case“-Szenarien von vornherein ins letzte Glied zu stellen und sich auf die „Best Case“-Szenarien zu konzentrieren. Die Palette der eigenen Möglichkeiten muss vielmehr vom schlimmsten Fall her geordnet werden, also von dem her, was mit den größten Anstrengungen der eigenen Seite einhergeht, und erst dann kommt dran, was einem weniger abverlangt. Das war in den letzten drei Dekaden nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und dem Zerfall der Sow-jetunion genau umgekehrt. Die „Friedensdividende“ wirkte wie eine Freistellung davon, sich mit Fragen der politischen Strategie beschäftigen zu müssen. Demgemäß ist die „strategic community“ immer weiter geschrumpft, und die Normativisten, von denen die politische Agenda mit immer neuen Wünschbarkeiten zugestellt wurde, übernahmen das Kommando. 

Nachholbedarf auf allen Ebenen

Die Wieder- und Neuaneignung strategischen Denkens und Handelns kann unter den gegebenen Umständen nicht auf die Bundeswehr beschränkt bleiben. Mit der Führung eines Schießkriegs seitens der russischen Armee ist die Bedrohung durch hybride Kriegführung keineswegs verschwunden. Auch in der Ukraine ging dem Krieg mit tödlichen Waffen ein hybrider Krieg voraus, der in Angriffen auf ukrainische Kommunikations- und Steuerungssysteme bestand und zu dem auch systematische Fehl- und Falschinformationen gehörten. Der Angreifer zielt nicht mehr allein auf die Körper, sondern beginnt die Attacke, indem er das Wissen der Angegriffenen mitsamt den darauf gegründeten Orientierungen verwirrt. 

Dass die Russen bei den Ukrainern damit nicht weit gekommen sind, heißt nicht, dass sie damit auch an westlichen Gesellschaften scheitern würden. Zu strategischer Härtung einer Gesellschaft gehört darum die Befähigung der Bürger zum Umgang mit Desinformationskampagnen hinzu. Verteidigungsfähigkeit heißt inzwischen, dass jeder und jede in zentralen politischen Fragen zumindest mitdenken können muss. Je mehr Menschen das nicht können oder nicht wollen, desto verwundbarer ist eine Gesellschaft.

Vor allem aber müssen die politischen und gesellschaftlichen Eliten wieder zu strategischem Denken befähigt werden. Hier besteht der größte Nachholbedarf. Das demokratische Auswahlsystem prämiert gewiefte Taktiker, ist aber blind gegenüber denen, die strategisch zu denken in der Lage sind. Einen Wahlkreis zu gewinnen, spricht für taktisches Geschick, aber keineswegs für die Fähigkeit zu strategischem Denken. Die in den letzten Jahren beobachtbaren Defizite im strategischen Denken und Agieren der politischen Klasse in Deutschland müssen behoben werden. 

Das ist die wohl schwerste Aufgabe, vor der die Deutschen jetzt stehen. Verständlich, dass viele davor zunächst einmal zurückschrecken und hoffen, es werde schon bald wieder so sein, wie es früher war. Aber das ist Flucht in Illusionen zwecks Vermeidung, Strategie erneut und neu denken zu müssen.






Prof. Dr. Herfried Münkler war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2008) und „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ (2013, beide Rowohlt) sowie „Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa“ (Edition Körber-Stiftung 2015). 

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