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Folge 11-22 vom 18. März 2022 / Algerienkrieg / „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ / Schon einmal gab es einen Krieg, der offiziell nicht als solcher bezeichnet werden durfte. Vor 60 Jahren endete der französisch-algerische Konflikt mit den Verträgen von Évian

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-22 vom 18. März 2022

Algerienkrieg
„Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“
Schon einmal gab es einen Krieg, der offiziell nicht als solcher bezeichnet werden durfte. Vor 60 Jahren endete der französisch-algerische Konflikt mit den Verträgen von Évian
Wolfgang Kaufmann

Westliche Medien mokieren sich derzeit darüber, dass der Ukrainekrieg in Russland nicht Krieg, sondern militärische „Sonderoperation zur Friedenssicherung“ genannt wird. Allerdings ist die Hemmung, einen Krieg, an dem man selbst maßgeblich beteiligt ist, auch als solchen zu bezeichnen, nichts spezifisch Russisches. Auch im Westen gibt es diverse Beispiel dafür. Genannt sei hier nur der Afghanistankrieg. Bis Karl-Theodor zu Guttenberg dauerte es, dass ein Bundesvereidigungsminister den Krieg in Afghanistan als solchen bezeichnete. Ein anderes Beispiel ist der Algerienkrieg, den das offizielle Frankreich jahrzehntelang als „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ klassifizierte. 

Die sogenannten Polizeiaktionen endeten am 19. März 1962 um 12 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt trat ein zwischen der algerischen Nationalbewegung und der Regierung in Paris ausgehandelter Waffenstillstand in Kraft. Die entsprechende Vereinbarung war am Vortag im Hotel du Parc in Évian-les-Bains vom Staatsminister für algerische Angelegenheiten, Louis Joxe, dem Minister für öffentliche Arbeiten und Transport, Robert Buron und dem Staatssekretär für die Sahara, Jean de Broglie, von der französischen Regierung sowie Krim Belkassem von der Provisorischen Regierung der Algerischen Republik (GPRA) unterzeichnet worden.

Nach 132 Jahren unabhängig

Neben dem Waffenstillstand hatten die Bevollmächtigten des französischen Staatspräsidenten, Charles de Gaulle, und der algerischen Nationalen Befreiungsbewegung (FLN) weitere Abmachungen politischer und militärischer Natur getroffen. So erhielten die Algerier die Möglichkeit, im Rahmen eines Referendums über die Unabhängigkeit ihres Landes zu entscheiden. Dieses fand am 1. Juli 1962 statt. Eine überwältigende Mehrheit von 99,72 Prozent der Teilnehmer an der Abstimmung votierte für die Loslösung von Frankreich. Daraufhin wurde vier Tage später die heute noch existierende Demokratische Volksrepublik Algerien proklamiert, das Ende von 132 Jahren französischer Kolonialherrschaft in dem mittleren der drei Maghrebländer.

Des Weiteren vereinbarten die Unterhändler von Évian eine umfassende Amnestie für alle zwischen dem Ausbruch des Algerienkrieges und dem Waffenstillstand begangenen Handlungen. Außerdem sicherte sich Frankreich noch einen privilegierten Zugang zu den Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Sahara, wofür es im Gegenzug wirtschaftliche Aufbauhilfen versprach. Ebenso sagte Paris den vollständigen Rückzug seiner Streitkräfte innerhalb von maximal drei Jahren zu. 

Allerdings konnte Frankreich die Anlagen für Raketen- und Atomwaffentests in Reggane, Colomb-Béchar, In Ecker und Hammaguir noch für weitere fünf Jahre nutzen. Hier wurden bis 1966 zwölf Atomsprengköpfe gezündet. Und am 26. November 1965 startete der erste französische Erdsatellit „Asterix“ in Hammaguir. Gleichermaßen verblieb der große Marinestützpunkt von Mers el-Kébir am Golf von Oran bis 1968 in französischer Hand.

1,5 Millionen tote Algerier

Durch die Abkommen von Évian-les-Bains endete ein Befreiungskrieg, in dessen sieben Jahren und fünf Monaten sechs französische Ministerpräsidenten stürzten und die Vierte Republik kollabierte. Der Beginn des Konflikts datiert auf den 1. November 1954, an dem die wenige Monate zuvor gegründete FLN eine Serie von 70 Anschlägen unternahm und die Unabhängigkeit Algeriens proklamierte. Frankreich reagierte mit der Verhängung des Ausnahmezustands. Die Eskalation mündete in lang anhaltende und mit großer Brutalität geführte Kämpfe der in Guerillamanier agierenden FLN mit den Streitkräften der Vierten und Fünften Republik, die mit Massenverhaftungen und Folter arbeiteten. 

Die Opfer der Auseinandersetzungen waren recht ungleichmäßig verteilt. 25.600 französischen Soldaten und rund 50.000 Harkis genannten Angehörigen der algerischen Hilfstruppen der Kolonialmacht sowie 4000 bis 6000 europäischen Zivilisten standen möglicherweise bis zu eineinhalb Millionen Tote auf der Seite der Algerier gegenüber.

Die Friedensverhandlungen, die am 20. Mai 1961 begannen und in Évian, Lugrin und Les Rousses geführt wurden, waren die Folge eines Referendums vom 8. Januar 1961, bei dem sich drei Viertel der Franzosen wegen der zunehmenden Unpopularität des Algerienkrieges im Mutterland für die künftige Unabhängigkeit Algeriens ausgesprochen hatten, bei dem es sich offiziell nicht um eine Kolonie, sondern um 15 nordafrikanische Départements der Französischen Republik handelte.

Pieds-noirs auf der Flucht

Allerdings führte der Waffenstillstand vom 19. März 1962 zu keinem Ende der Gewalt in Algerien. Einerseits versuchte die französische Untergrundbewegung Organisation de l’armée secrète (OAS), deren Credo lautete „Algerien ist französisch und wird es bleiben!“, die Abkommen durch eine Vielzahl von Terroranschlägen zu sabotieren oder zumindest verbrannte Erde zu hinterlassen. Andererseits verübten algerische Milizen Massaker an den kollaborierenden Harkis und den Algerienfranzosen, denen dadurch nur die Wahl zwischen „Koffer oder Sarg“ blieb. 

Deshalb flohen fast eine Million Siedler europäischer Herkunft, die damals Pieds-noirs (Schwarzfüße) genannt wurden, bis zum 5. Juli 1962 nach Frankreich oder in andere Staaten jenseits des Mittelmeeres. Damit verlor Algerien fast seine gesamte Bildungselite und den größten Teil des wirtschaftlichen Mittelstands. Darunter leidet die Entwicklung der Maghreb-Republik bis heute.

1999 als Krieg anerkannt

Ebenso wechselten die überlebenden 67.000 Harkis samt ihrer 80.000 Familienangehörigen nach Frankreich. Getreu dem Gaius Julius Caesar zugeschriebenen Zitat „Ich liebe den Verrat, aber ich hasse Verräter“ behandelte die Französische Republik sie nicht so großzügig wie die Bundesrepublik ihre sogenannten Ortskräfte, sondern steckte sie in Internierungslager. Manche der Attentäter, die seitdem in Frankreich im Namen des Islam gemordet haben, sind Abkömmlinge der Kollaborateure von einst.

Im Jahre 1999, viereinhalb Jahrzehnte nach dem Beginn, erkannte die französische Nationalversammlung die „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ als Krieg an. Sollte die Volksvertretung der Russischen Föderation ihr französisches Pendant rücksichtsvollerweise nicht in den Schatten stellen wollen, müsste sie sich also mindestens bis 2067 mit der analogen offiziellen Anerkennung der aktuellen „Sonderoperation zur Friedenssicherung“ als Krieg Zeit lassen.





Unterzeichner der Verträge von Évian

Louis Joxe war Frankreichs Chefunterhändler bei den Verträgen von Évian. Vom 22. November 1960 bis 28. November 1962 war er Minister für Algerienfragen.

Krim Belkassem war von 1958 bis 1962 Stellvertretender Ministerpräsident sowie bis 1960 Verteidigungs- und bis 1962 Außenminister Algeriens.

Robert Buron leitete diverse französische Ministerien, darunter auch vom 8. Januar 1959 bis zum 16. Mai 1962 das für öffentliche Arbeiten und Transport.