20.05.2024

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Folge 11-22 vom 18. März 2022 / Historisches Fundstück / Kleine Fahrt ums große Haff / Das Frische Haff – ein passionierter Segler erinnert sich an wundervolle Ausflüge in eine unberührte Natur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-22 vom 18. März 2022

Historisches Fundstück
Kleine Fahrt ums große Haff
Das Frische Haff – ein passionierter Segler erinnert sich an wundervolle Ausflüge in eine unberührte Natur
Markus Joachim Tidick

Den Freunden, die mich veranlasst haben, über das Frische Haff zu schreiben, ihnen gebt bitte die Schuld, wenn hier nicht alles, was dazu gehört und was wichtig ist, mit sauberer Exaktheit aufgezeichnet wird. Denn sie haben es gewusst, dass mein Namensgedächtnis schlecht, meine historischen Kenntnisse mäßig sind, und dass ich in meinem Kopf keinen Baedeker habe, in dem die Sachen, die man sich ganz bestimmt angucken soll, mit einem Stern bezeichnet sind. Ich habe mir nämlich die Sache mit dem Stern meist gar nicht so genau angeguckt, weil mir manchmal ein Dutzend Schilfhalme in einer winzig kleinen Bucht oder eine Leuchttonne des Fahrwassers oder die aufgemalten Gardinen auf dem breiten Heck einer Tolkemiter Lomme vielmehr Spaß machten – meine Lehrer mögen mir verzeihen.

Ich bin Segler, und ich habe schon als Junge im selbstgebauten Boot angefangen, über das Haff zu schippern. Und das Land rundherum, seht ihr, das gewann für mich vor allem Bedeutung, soweit es der Rand und der Rahmen für das Haff war. Die Chausseen, die großen und kleinen Wege, die es da ringsum gab, die waren nicht so wichtig. Wir betrachteten das Land aus der Perspektive des Wassers, wir eroberten seine Schönheiten vom Ufer her; uns waren Dinge vertraut, die dem Autofahrerund dem Fußgänger immer Geheimnisse geblieben sind, und ich bin nach wie vor der Meinung, dass diese Betrachtungsweise für einen großen Teil unserer herrlichen wasserreichen Heimat die schönste ist.

Seglertribut dem Weißen Mann

Da wir von Königsberg kamen, begann das Haff damit, dass der Pregel zu Ende war. Dass aus der Enge plötzlich eine schimmernde Weite wurde, die das kleine Boot nicht immer freundlich empfing. Dass man rechts den Seekanal liegen ließ und an der ersten der acht langgestreckten Kanalinseln vorbei nach links auf das Haff hinauslief mit südwestlichem Kurs. Der Weiße Mann, dieser konisch zulaufende, unten schwarz und oben weiß gestrichene runde Turm, war ein altes Seezeichen, längst außer Betrieb für die Schifffahrt. Aber für uns war er wichtig. Er begrüßte jedes ausfahrende und verabschiedete, jedes heimkehrende Boot im Namen des Frischen Haffs. Wir aber erwiesen ihm die schuldige Reverenz, indem wir einen Schluck aus der Pulle ins Wasser kippten und ihm dann ein grobes Wort zuriefen.

Der Umgangston war nun einmal rau, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kerl wie der Weiße Mann, der jahraus, jahrein bei Sturm und Wetter auf einer einsamen Insel steht, Wert auf höfische Sitten legt. Wir sind immer gut ausgekommen. Um ihn als Symbol den Seglern auf alle Fälle zu erhalten, habe ich sogar einmal den Versuch gemacht, ihn zu kaufen. Die Wasserbaudirektion, der er dienstplanmäßig unterstand, hat mich wohl für einen Verrückten gehalten. Aber mitten im Kriege und mitten im Winter haben wir uns seiner erinnert, wir drei Kumpane, die auf Weihnachtsurlaub waren. Mit viel Mühe, einem Boot und großen Leitern sind wir durch die Eisschollen zu ihm hingefahren und haben ihm ein wunderschönes Gesicht aufgemalt, das bis auf die andere Seite des Haffs zu sehen war.

Die Bucht mit dem Dörfchen Haffstrom hat uns im Sommer kaum gereizt. Sie war zu flach, und am Sonntag parkten auf dem Ufersand Tausend Radfahrer, die zum Baden gekommen waren. Nur die alte, weißgetünchte Kirche grüßte über die Kronen der Kastanien herüber. Dafür wurde Haffstrom im Winter, wenn wir eissegelten, für uns zum Mittelpunkt des ganzen Haffs, und im Dorf kannte der kleinste Steppke, dem noch der Hemdenzipfel aus der Hose hing, unsere Rennschlitten mit Namen.

Rechts blieben also, wenn man so hinaussegelte, viele Kilometer weit die langgestreckten Inseln neben uns, die Haff und Seekanal voneinander trennten. Ein Paradies, vor allem für die Paddler und Ruderer. Man rechnete überhaupt nach Inseln. „Wo treffen wir uns?“ „An der achten Insel, denke ich.“ Es konnte natürlich auch die sechste oder die vierte sein, und für die Faulen vielleicht die zweite. Auf jeder aber ein ganz bestimmter Punkt, den Eingeweihten bekannt. Hier war ein Steg günstig, dort eine winzige geschützte Bucht, da der weiße Sand. Überall brauchte man eine Invasion vom Festland nicht zu fürchten. Da lagen dann Groß-Heydekrug, Zimmerbude und Peyse, wir brauchten nur über den Seekanal zu fahren, wenn wir das Nachtleben genießen wollten. Meist wollten wir nicht. Die Vorstellung, die es auf den Inseln gab, wenn sich am Abend Himmel und Wasser von rot bis grün verfärbten und wenn die schwarzen Keitelkähne mit ihren roten Wikinger-Segeln in endloser Kette ausliefen zum Fang, diese Vorstellung war schöner als die beste Drehorgel, der lauteste Rummel und das beste Glas Steinhäger im Dorf. 

Aber ich habe Angst, wir segeln zu langsam. Ihr habt einen schlechten Kaptein, der überall hängen bleibt, an jedem Schilfhalm, jedem Busch, den er kennt und jedem Leuchtfeuer, an dem er hundertmal vorbeischipperte. Lassen wir es Nacht werden und segeln wir weiter, lassen wir auch noch den Mond vorkommen, und lassen wir sie dann aufleuchten, die Illumination der Leuchtfeuer, der geruhsam und gleichmäßig brennenden, der blitzeschießenden Blinkfeuer, der roten, grünen und weißen Lichter auf Tonnen und Schiffen und des roten und weißen Sektors, mit dem der Leuchtturm von Pillau die Schiffe warnt und führt. Ein herrliches, buntes Spiel über der dunklen Weite rauschender Wellen. 

Ja, Pillau! 

Was stand da bei Westwind oft für eine See im Pillauer Tief! Und ein Strom dazu, der nicht von schlechten Eltern war. Und fast an jedem Sonnabend sah man noch spät in der Nacht, wie weiße Segel von den Blitzen des Leuchtturms plötzlich erhellt wurden – Boote, die sich noch in den Hafen schlichen und dort nach Liegeplätzen suchten. Wenn man wissen wollte, wer da war, ging man am besten in die Ilskefalle. Im Tabaksqualm schaukelten unter der verräucherten Decke Walfischbarten und ausgestopfte Fische, Schiffsmodelle und Mitbringsel aus der ganzen Welt, mit denen die Ilskefalle vollgepropft war. Und sicher weiß mancher von euch, was das kleine Höschen dazwischen zu bedeuten hatte, das zum Herablassen an einer Schnur eingerichtet war. Wehe dem Neuling, der das ahnungslos tat! Ohne ein Wort zu verlieren, brachte der Wirt eine Runde für das ganze Lokal, und dem Ärmsten wurde sie angekreidet. 

Kch – kch – kch – kch, das sind die Glühkopfmotoren der Pillauer und Neutiefer Lachskutter. Unmittelbar an den Hafenmauern ist eine andere Fischerei im Gange – nach Stichlingen. Die einzige Stelle, glaube ich, an der diese stachligen Dinger gebraucht wurden. Tonnenweise wanderten sie in die Tran- und Fischmehlfabrik, die bei passender Windrichtung von Alt-Pillau herüberstank. Sonst sind sie im Allgemeinen ja nur dazu gut, dass man sie sich in den Fuß tritt, wenn sie tot und gedörrt im Sande herumliegen. 

Zwischen Neutief und Kahlberg webt der ganze dunkle Zauber der Frischen Nehrung. Aber es stehen auch haufenweise Netzstangen weit ins Wasser hinein, und wer dazwischen an Land will, muss sich vorsehen. Aber es hat immer gelohnt, so finde ich, die Mühe in Kauf zu nehmen. Nicht nur bei Strauchbucht, wo es noch einen Anlegesteg gab und eine Försterei im Hintergrund, sondern gerade dort, wo man am weitesten entfernt war von jedem Dorf. Es gibt da eine Stelle – ich kann sie nicht mit Namen bezeichnen, aber ich würde sie sofort wiederfinden –, da war feiner, weißer Sand am Ufer, dahinter eine weite grüne Fläche mit kurzem Gras, und dann leuchtete da vor dem dunklen Hintergrund der Kiefern und Tannen eine Gruppe von Birken so fröhlich wie Mädchen in Sommerkleidern. Die steht in keinem Reiseführer, aber bei mir hat sie drei Sterne. Es ist eine der fröhlichsten Stellen rund ums ganze Haff. Kein Mensch kümmerte sich darum, ob man nackt herumlief oder mit Indianerfedern auf dem Kopf, denn kein Mensch war zum Kümmern da. Der Förster, der alle drei Jahre einmal aus dem Wald gelugt hat, nahm auch keinen Anstoß. 

Aber wir sind ja, das lässt sich nicht verheimlichen, auf dem Wege über Narmeln nach Kahlberg, und eigentlich müsste es Pfingsten sein. Denn Kahlberg – wohin im Sommer die Elbinger ihre Söhne, vor allem aber ihre Töchter schickten, damit sie und die Segler eine Freude hatten – stand zu Pfingsten ganz im Zeichen der weißgeflügelten Jachten. Einige Besitzer von Motorkuttern hatten in diesen Tagen ihr gutes Auskommen damit, all die Boote vom Dreck herunterzuschleppen, die wenige Meter neben der Aktienmole festsaßen. Diese Motorkutterbesitzer haben wir im Verdacht, dass sie immer dagegen gestimmt haben, wenn mal das Ausbaggern des Hafens zur Debatte gestanden hat. Weiße Dämpflinge rauschten von Tolkemit und Elbing heran, luden ihre Fracht von Badegästen auf der Mole ab, und ehe diese ihre erhitzten Glieder über die Höhen Kahlbergs zum Ostseestrand trugen, hatten sie das Vergnügen, die an der Mole vertäuten achtzig bis hundert Segelboote samt ihren Besatzungen wie eine hinter den Gittern des Geländers aufgebaute Menagerie zu betrachten. 

Übrigens gab es auch noch den Kaiserhafen ein Stückchen weiter. Er hatte seinen Namen wohl daher, dass in früheren Zeiten ein oder einige Male der Kaiser dort mit seiner Jacht gelegen hatte. Aber ich nehme an, dass Majestät noch nicht einmal zu winken brauchte, um einen Bagger und drei Dutzend Krautausreißer in Bewegung zu setzen, die dem weißen Bauch des Schiffleins das Bett machten. Zu unserer Zeit lag man in dem Kaiserhafen zwar ziemlich ungestört, aber gar nicht kaiserlich, denn er war eine schöne Modderkuhle.

Der Tolkemiter Aal

Habt ihr mal eine Tolkemiter Lomme gesehen? Das waren noch Schiffe mit Charakter, mit einem gutmütigen dazu. Vorne breit und rund, hinten breit und eckig, sie schoben einen Berg Wasser vor sich her, sie fuhren ein- oder zweimastig mit Kies und Ziegeln von der Gegend Tolkemit, Frauenburg, Heiligenbeil nach Pillau und Königsberg. Sie hatten Blumenkästen vor der Kajüte, und die Fenster auf dem Heck waren nur gemalt. In ruhmreicheren Zeiten segelten sie auch nach Schweden, und die größten von ihnen gingen auch jetzt noch auf See, um sich draußen vor der Samlandküste vor vier Anker zu legen, einen Taucher hinunterzuschicken und mit stählernen Zangen die Steine emporzuholen, die für Molenbefestigungen und Straßenbau gebraucht wurden.

Es ist gelogen, wenn man ihrem Heimathafen Tolkemit nachsagt, dass die Leute dort Schuhsohlen aus Faltboothäuten trugen. Das ist bestimmt eine Verleumdung, die Tolkemiter Schiffer waren zu uns immer nett und hilfsbereit, bestimmt nicht nur deswegen, weil unser Boot nicht aus Gummi, sondern aus Holz bestand. Außerdem waren es tatkräftige Leute, denn sie hatten es fertiggebracht, den berüchtigten Tolkemiter Aal an die Kette zu legen und über die Theke einer Gastwirtschaft zu hängen. Dieser Aal, so heißt es, hat einst vor Frauenburg sein Unwesen getrieben, und zwar hatte er es besonders auf Jungfrauen abgesehen. Als er dort keine mehr fand – so heißt es – wechselte er in die Gegend von Tolkemit über. Natürlich wollten die Tolkemiter ihre Jungfrauen für sich haben, sie gaben dem Aal ihr Bier zu trinken, und daran, so heißt es, sei er gestorben. Ich bitte darauf zu achten, dass ich an allen verfänglichen Stellen dieser Historie immer,„so heißt es“ eingefügt habe, denn ich habe die Geschichte nicht ersonnen, und ich will es weder mit den Tolkemitern noch den Frauenburgern verderben.

Am natangschen Haffstrand

Wie klein waren unsere Segel doch, wenn sie unter der Höhe von Balga vorbeiglitten, und wie groß kamen sie uns vor, wenn sie einmal in dem winzigen Hafen von Brandenburg auftauchten. Aber während die Buchendome bei Cadinen und Tolkemit für den, der sich auf dem Wasser bewegte, meist eine schöne Sache von ferne waren, gab es zwischen Balga und Brandenburg wieder eine Stelle, die keiner kennt, jedenfalls nur wenige, die mit ihren Booten durch das flache Wasser dahin kamen. Sie liegt in der Nähe des Dorfes Schölen.

Wenige Meter von der Wasserkante entfernt springt das Ufer ein bis zwei Meter hoch und trägt den weichsten Waldboden, den ich je kennengelernt habe. Man baut sein Zelt unter den Schirmen niedriger Kiefern auf, und wenn man zehn Schritte geht, steht man mitten in wahren Großfamilien von Gelböhrchen. Es wächst einem aus dem Moos geradezu in den Kochtopf hinein, und immer wieder kann man ernten. 

Diese ein bis zwei Meter über dem Wasserspiegel heben den Blick aus der Froschperspektive und machen diesen Punkt zu einer Stelle der Andacht. Bis zum Pillauer Tief auf der anderen Seite überblickt man das ganze in der Sonne strahlende Haff, und in der Nacht hat man das ganze Leuchten und Funkeln vor sich.

Und an dieser Stelle wollen wir die kleine Rundfahrt beschließen, die nur mit dem Herzen gemacht wurde und, vom Verstand aus betrachtet, höchst lückenhaft geblieben ist. Die Fahrt über das Haff, das uns manchmal das Leben schwer machte mit seinen groben, steilen Wellen, das uns schüttelte und uns den Hals umdrehen wollte und das ein andermal farbenprächtig und zart und lieblich war wie selbst eine Jugendliebe es im Allgemeinen nur in der Erinnerung sein kann.

aus: Ostpreußenblatt 1952