19.05.2024

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Folge 12-22 vom 25. März 2022 / Analyse / Deutungen eines Krieges

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-22 vom 25. März 2022

Analyse
Deutungen eines Krieges
Richard Drexl

Die Zeichen mehren sich, dass Wladimir Putin sich mit seinem Angriff gegen die Ukraine verzockt hat. Der verzweifelte Mut der Ukrainer ist mit den Mitteln der russischen Armee nur schwer zu brechen. Jeder Tag des ukrainischen Standhaltens ist eine Niederlage für die Russen. Zwar ist der Osten besetzt und die Schwarzmeerküste bis vor Odessa eingenommen, darüber hinaus wurden aber kaum Geländegewinne erzielt. 

Woran kann das liegen? Ist das Operationsziel erreicht, oder geht nichts mehr? Für finale Erkenntnisse ist es zu früh, doch schälen sich immer deutlicher bemerkenswerte Tendenzen heraus:

• Die Ukraine umfasst ein Gebiet von etwa 600.000 Quadratkilometern. Der numerische Kräfteansatz bei Kriegsbeginn wird auf bis zu 200.000 Angreifer geschätzt. Setzt man bis zu drei „Unterstützer“ auf einen Frontkämpfer an, bleiben über den Daumen 60.000 Kämpfer zur Eroberung riesiger Gebiete. Selbst wenn nur Schlüsselregionen erobert werden sollten, wäre dies ein unzureichender Kräfteansatz gewesen.

• War der Eindruck einer modernen russischen Armee irreführend? Möglicherweise auch für Zar Putin? Für Militärparaden und bilderstarke Manöver hat es gereicht, ein Angriffskrieg mit Superwaffen ist bisher nicht zu beobachten. 

• Die mit etwa 14 Milliarden US-Dollar bezifferte Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe der USA für das ukrainische Militär wirkt. Gezielter Waffeneinsatz, sichere Kommunikation, Nachtsicht- und Radargeräte sowie eine brauchbare Militärmedizin ergeben eine halbwegs tragfähige Basis für die Kampfführung.

• Insbesondere schultergestützte Flug- und Panzerabwehrwaffen setzen den Russen zu. Sie verfügen offenbar über keine tauglichen Abwehrmittel gegen Stinger- und Javelin-Lenkflugkörper.

• Wie bereits in Armenien dürften auch türkische Drohnen eine Rolle spielen. Für sie wird keine große Infrastruktur benötigt, mit ihnen kann überraschend zugeschlagen werden. Für geländekundige Verteidiger eine ideale Waffe.

• Aktuelle Informationen über die Feindlage von NATO-Geheimdiensten  dürften den Ukrainern gezielte Gegenschläge ermöglichen. 

• Bilder von aufeinander gefahrenen und zerstörten Panzergruppen inmitten von Siedlungsgebieten werfen Fragen zur Angriffstaktik auf. Die gewässerreiche Geographie zwingt die Angreifer oft auf befestigte Straßen, was die Bekämpfung ihrer Konvois erleichtert. Zweifel an den operativen Fähigkeiten des russischen Generalstabs zur koordinierten Gesamtkriegsführung werden laut.

• Russland leidet bis heute an einer kollektivistischen Prägung. Jede Armee tut sich schwer, die das Wort Auftragstaktik nicht buchstabieren kann und den Kommandeuren wenig Entscheidungsspielraum lässt. Militärischer Dilettantismus paart sich stellenweise mit Brutalität. Unmotivierte und uninformierte Wehrpflichtige sind einer taktisch wenig versierten, um nicht zu sagen inkompetenten Führung ausgesetzt. 

• Erstaunliche Unfähigkeit zum Gefecht der verbundenen Waffen: Panzer gehen ohne Infanterieunterstützung vor, Bodentruppen erhalten kaum Deckung aus der Luft. Versorgungsprobleme an Treibstoff, Munition und Verpflegung passen ins Bild.

• Nicht zuletzt spielen auch die modernen Medien eine gewichtige Rolle, Bilder brutaler Angriffe auf die Zivilbevölkerung machen die Runde. Wer das sieht, greift automatisch zur Waffe. Wolodimir Selenskyj weiß sich der neuen Möglichkeiten perfekt zu bedienen.

Zudem macht sich offenbar ein Personaltausch des ukrainischen Präsidenten bezahlt. Der Chef der Streitkräfte wurde 2021 durch den jungen General Saluschni ersetzt. Nicht in der Sowjetunion ausgebildet, orientiert an westlicher Kampftaktik, zog dieser Lehren aus den Fehlern der Ukraine bei der Annexion der Krim 2014. Die Armee wurde in kleine autonome Kampfverbände umgegliedert, was sich beim Verzögerungskampf und der Ortsverteidigung als handfester Vorteil erweist. 

Es ist bei Weitem zu früh für einen Abgesang auf die Russen, allein in Anbetracht von deren materieller Materialüberlegenheit. Die Ukrainer aber kämpfen um ihre Heimat, sie beschützen Haus und Hof gegen das übergriffige Brudervolk. Ihre Motivation ist die Bewahrung des Erreichten, das russische Joch steht auch aus historischen Gründen in einem denkbar schlechten Ruf. Die Freiheit erweist sich als überaus starke Triebfeder, dafür setzen die Verteidiger ihr Leben aufs Spiel. Wofür es sich zu kämpfen lohnt, bedarf keiner Erklärung.