19.05.2024

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Folge 12-22 vom 25. März 2022 / Schicksal / Wie ein Zugvogel / Die Königsbergerin Sigrid Uhlig erlebte als Kleinkind das Kriegsende – Unsicherheit und Furcht bestimmten ihre Kindheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-22 vom 25. März 2022

Schicksal
Wie ein Zugvogel
Die Königsbergerin Sigrid Uhlig erlebte als Kleinkind das Kriegsende – Unsicherheit und Furcht bestimmten ihre Kindheit
Silvia Friedrich

Ich bin 1942 in Königsberg geboren. Vor dem Krieg wohnten wir im Stadtteil Unterhaberberg in der Borchertstraße. Gern hätte ich Siegfried Lenz und Marion Gräfin Dönhoff aus Ostpreußen persönlich kennengelernt. Leider ist es beim Wollen geblieben. 

Wir waren zu Hause fünf Geschwister, ein Junge und vier Mädchen. Meine Geschwister waren alle bedeutend älter als ich. Königsberg wurde total zerstört. Die wenigen brauchbaren Wohnungen oder Häuser wurden von den russischen Soldaten bewohnt, die ihre Familien nachgeholt hatten. Es gab eine Behörde, die in leerstehende Wohnungen/Häuser in der Stadt und auf dem Land Menschen einquartierte. 

Manche Behausungen waren in einem derart desolaten Zustand, dass sie nur zu bestimmten Jahreszeiten bewohnbar waren. Bei denen, die in Ordnung waren, kamen oft die Besitzer zurück. Ohne festen Wohnraum gab es keine Arbeit und ohne Arbeit keine Lebensmittel. Wir sind nicht geflüchtet, obwohl wir es vorhatten. Die Schiffe wurden bombardiert. Deshalb blieben wir in Königsberg. Nach meinem Empfinden waren die Lebensmittel nach dem Krieg noch knapper als während des Krieges. Einer von der noch vorhandenen Familie war immer unterwegs, um Lebensmittel aufzutreiben. Es gab keine Esskastanien mehr und alles an Kräutern und Gräsern, was sich zu Lebensmitteln verarbeiten ließ, war abgeerntet. Es gab auch kein Heizmaterial. 

Lebensmittel waren knapper als während des Kriegs

Mein Vater war auch nicht mehr in Königsberg. Er arbeitete auf einer Kolchose in einiger Entfernung als Dolmetscher, da er gut Polnisch und Russisch sprach. Die Russen setzten die deutschen Arbeitskräfte dort ein, wo sie gebraucht wurden. Wir, meine Mutter, meine Schwester Herta und ich, wurden vorübergehend auf dem Land untergebracht und waren in einem Treck auf dem Weg von der Stadt aufs Land. Zum Abend gerieten wir an eine Steinbaracke, bestehend aus einem sehr großen Raum und einem kleinen. Mütter mit Kindern und Kranke kamen in den kleinen Raum. Dort gab es einen großen Kachelofen. Irgendwer trieb ein paar Äste auf. Der Ofen wurde nur lauwarm. Jeder hielt seine Hände dran, und ein kleines Gefühl von Wärme entstand. Es gab auch zwei Betten, nur mit Matratze ohne etwas zum Zudecken. Ein Bett bekamen meine Mutter und ich, das andere blieb auch nicht leer. 

In unserem Zimmer war unter anderem ein sehr großer dicker Mann. Er barmte, wie krank er sei und wie schwer das Leben. Die Menschen waren erschöpft und hungrig und nach kurzer Zeit verbaten sie sich das Gerede, denn es ging allen so. Alle anderen setzten sich auf den Fußboden, rückten eng zusammen und schliefen ein. Meine Mutter muss furchtbare Schmerzen gehabt haben. Sie schrie. Die anderen Flüchtlinge beschwerten sich deswegen. Gegen Morgen wurde ich wach und fror erbärmlich. Ich wollte näher an meine Mutter heranrücken und stellte fest, dass sie nicht mehr neben mir lag, sondern dieser unsympathische dicke Mann. Es war noch dunkel. Meine Schwester konnte ich nicht sehen. Ich fühlte mich so was von verlassen unter diesen vielen fremden Menschen und diesem Mann neben mir und begann laut zu weinen. 

Wieder wurde der Schlaf der Flüchtlinge unterbrochen. Meine Mutter war in der Nacht gestorben. Man hatte sie auf den wieder kalten Kachelofen gelegt und dieser Mann hatte durchgesetzt, dass er sich in das Bett legte.

Es dauerte einige Zeit, bis meine Schwester unter den vielen Schlafenden zum Vorschein kam. Sobald es hell wurde, verließen wir das Gebäude. Im Vorbeigehen nahmen die Menschen von meiner Mutter Abschied. Ich sollte nicht hingucken, aber alle gingen dicht gedrängt so vorbei, dass sie sie anschauten, sodass ich das Gleiche tat. Erst da sah ich sie auf dem Ofen liegen. Ein Mann schien für den Treck verantwortlich zu sein. Woher er einen Spaten mit einem zerbrochenen Stiel nahm, weiß ich nicht. Meine Mutter wurde notdürftig begraben. Als mein Vater davon erfuhr, grub er sie aus und beerdigte sie auf einem Friedhof. 

Als einmal die Not besonders groß war, fingen meine Schwestern eine Katze. Sie war nur Haut und Knochen. Sie wurde geschlachtet und gekocht. In den Topf schauten mehr Augen rein als Fettaugen raus. Junge russische Soldaten besuchten uns. Sie wollten den Krieg für kurze Zeit vergessen. Einer war betrunken und wollte Herta vergewaltigen. Sie beschimpfte ihn als Schwein. Das war das schlimmste Wort, das es für sie gab. Er legte sein Gewehr auf sie an. Die anderen Soldaten gingen dazwischen. Eine Zeit lang kamen immer dieselben. Einer hatte einen etwas höheren Rang. Sie benahmen sich sehr ordentlich und höflich und wollten mit Gleichaltrigen zusammen sein. 

Manchmal lagen wir schon im Bett. Ich war eingeschlafen. Der Ranghöhere saß neben mir und wollte mich sehen. Ganz vorsichtig nahm er etwas die Decke weg. Kaum, dass ich die Augen aufhatte und eine russische Uniform sah, begann ich zu schreien. Wir hatten die Angst vor den Russen bereits mit der Muttermilch eingesogen. Alle lachten. Er half, mich zu beruhigen und sagte, ich solle mir was wünschen. Ich wünschte mir Schokolade. Meine beiden Schwestern waren entsetzt. Wo sollte er in diesen Zeiten Schokolade hernehmen? Er sagte nur: „Du bekommst Schokolade!“

Der russische Soldat opferte seine Notration

Als er das nächste Mal kam, schlief ich schon wieder. Er weckte mich. Auf dem Nachtschrank lag ein Riegel Schokolade. Ich durfte ihn allein essen. Lange hörten wir nichts mehr von ihnen, aber als sie wiederkamen, war der Schokoladengeber nicht dabei. Sie erzählten, er sei bei einer kämpferischen Handlung erschossen worden. Die Schokolade war seine Notration gewesen. 

Meine Tante Minna hatte eine eigene Wohnung. Einige Zeit lebte ich mit meiner Schwester Herta bei ihr. Mit Minna waren wir in der Stadt unterwegs. Wir hatten gerade eine Kreuzung überquert, da lag quer ein Torso mit Kopf auf dem Fußgängerweg. Das Gesicht sah aus, als würde es lachen. Die Tante zog mich schnell vorbei. Ich fragte sie, warum er lacht, wenn er doch tot war.

Der große Hunger führte dazu, dass man sogar normale Kastanien mitbrachte. Minna legte sie in die Glut des Kachelofens. Wir probierten, sie zu essen. Sie waren so bitter, dass uns davon übel wurde. Kartoffeln waren knapp. Manchmal gab es Salzkartoffeln. Die Schalen wurden für den nächsten Tag aufgehoben, davon gab es Kartoffelsuppe. Meine Schwester Herta starb im Februar 1946 an Typhus, auch Minna verstarb. Irgendwann waren meine Schwester Hildegard und ich der Rest der Familie. Sie musste dafür sorgen, dass wir etwas zu essen bekamen. Ich war vier, lernte die Türe verschließen, wenn ich die Wohnung verließ, um auf die Toilette zu gehen, wenn es dunkel war, kein Licht anzumachen, damit die Russen denken sollten, es wohne niemand darin, und mich dort aufzuhalten, wo man mich nicht sah, wenn jemand durchs Schlüsselloch spähte. 

Reise von Kinderheim zu Kinderheim

Wenn meine Schwester nicht zu einer bestimmten Zeit zurück war, bekam ich Angst, dass ich ganz allein sein würde. Weinen durfte ich nicht. Die Wohnung war oft nicht geheizt, und so verbrachten wir viel Zeit im Bett. Wegen der mangelhaften Ernährung wurden schon simple Erkältungen zum Problem. Meine Schwester wurde krank und kam ins Elisabeth-Krankenhaus. Dort war in einer Etage ein Kinderheim, in das ich später auch kam. Das Kinderheim wurde im August/September 1946 von Königsberg an einen Ort an der Ostsee verlegt. Im Februar 1947 begann die Reise des Kinderheims nach Mitteldeutschland im Güterwaggon. Ich habe später immer auf dem Gebiet der DDR gelebt.

Egal wie klein oder jung wir waren, wir gehorchten, weil wir wussten, es war überlebensnotwendig. Dazu kamen in den ersten Jahren meiner Grundschulzeit die Beschimpfungen als Ausländerin. Mich wehren und durchsetzen lernte ich mit dem Eintritt ins Berufsleben. Die Ausländerin, die keine war und nur einen anderen Dialekt sprach, wollte nicht auffallen, nicht beobachtet und möglichst in Ruhe gelassen werden. 

Der Krieg und die Nachkriegszeit haben mir und vielen anderen die Kindheit gestohlen. Nicht nur der Krieg hat viele Familien auseinandergerissen. Die Teilung Deutschlands setzte den I-Punkt drauf. Richtig schlimm empfand ich es nach der Mauerschließung am 13. August 1961. Mein Vater, meine Schwester Hildegard und ich, wir fanden uns auf dem Gebiet der DDR 1950 wieder. Mein Bruder war in Gefangenschaft geraten und auf dem Gebiet der Bundesrepublik entlassen worden. Ich denke, ein Teil der Republikfluchten lag darin begründet, dass sich Familien aus beiden deutschen Staaten nicht gegenseitig besuchen konnten.

Was bedeutet für mich Heimat? Über diese Frage habe ich viel nachgedacht und keine befriedigende Antwort gefunden. Wirklich zu Hause fühle ich mich in meiner Wohnung. Königsberg ist mein Geburtsort, gilt mir nicht als Heimat. Obwohl es noch Erinnerungen an die lange deutsche Zeit gibt, ist es keine deutsche Stadt mehr, sondern eine typisch russische. Vielleicht, wenn wir dortgeblieben wären?

Ich komme mir vor wie ein Zugvogel. Einmal im Jahr muss ich raus aus Deutschland, irgendwohin in die weite Welt. Aufgezeichnet von Silvia Friedrich

Sigrid Uhlig: „Sonnenblumengeflüster“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2019, Taschenbuch, 169 Seiten, 12 Euro