19.05.2024

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Folge 14-22 vom 08. April 2022 / Krieg im Osten / Das Grauen von Butscha und die Frage nach den Konsequenzen / Die Kriegsverbrechen in der Ukraine verlangen nicht nur nach angemessenen Antworten der internationalen Politik, sondern auch nach einer anderen Erinnerungskultur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-22 vom 08. April 2022

Krieg im Osten
Das Grauen von Butscha und die Frage nach den Konsequenzen
Die Kriegsverbrechen in der Ukraine verlangen nicht nur nach angemessenen Antworten der internationalen Politik, sondern auch nach einer anderen Erinnerungskultur
René Nehring

Es sind Bilder eines unvorstellbaren Grauens, die uns dieser Tage aus Kiewer Vororten erreichen. Nachdem die russische Armee die von ihnen in den letzten Wochen besetzten Gebiete am Rande der ukrainischen Hauptstadt räumen musste, wurden in Butscha, Irpin und andernorts zahlreiche Leichen entdeckt, die Spuren schwerster Gewalteinwirkungen aufwiesen: verstümmelte Menschen, die zum Teil mit auf dem Rücken verbundenen Händen und Kopfschüssen in den Straßen lagen, Zivilisten, die in Autos von Panzern überrollt wurden, sowie etliche vergewaltigte Frauen. 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj befürchtet angesichts dieser Funde nach der Befreiung weiterer Gebiete seines Landes auch weitere Kriegsverbrechen, die sogar „noch schrecklicher“ sein könnten, mit „noch mehr Toten und Misshandlungen“. 

Zwar wiesen der russische Regierungssprecher Dmitri Peskow und die Leiterin der Informationsabteilung des Moskauer Außenministeriums, Marija Sacharowa, jegliche Verantwortung Russlands für diese Verbrechen zurück und behaupteten hingegen, dass es sich bei den ukrainischen Schilderungen um „Fake News“ handele, die von den USA „bestellt“ worden seien. Doch lässt schon die bislang bekannte Vielzahl an Tatorten keinen anderen Schluss zu, als dass es sich hier um ein groß angelegtes russisches Kriegsverbrechen handelt – um Szenen eines Vernichtungskriegs, für den Präsident Wladimir Putin die Verantwortung trägt.

Suche nach der richtigen Antwort

Ein solches Verbrechen verlangt nach Antworten, nach Ermittlung der genauen Abläufe ebenso wie nach Anklage und Verurteilung der Handelnden vor Ort wie deren Hintermänner. Ein solches Verbrechen verlangt auch nach Gegenmaßnahmen, die es Putin und seinem Umfeld unmöglich machen, ihren Vernichtungskrieg fortzusetzen. Schon gibt es Forderungen nach weiteren Verschärfungen der gegen Russland verhängten Sanktionen, allen voran nach einem sofortigen Erdöl- und Gasembargo, um zu verhindern, dass weiterhin europäisches Geld in die russische Kriegsmaschinerie fließt. 

Zweifellos würde ein solcher Schritt die Moskauer Führung schwer treffen. Doch würde er auch den Krieg und die russischen Massaker beenden? Wohl kaum. Denn trotz des bislang weitestgehend erfolglosen Agierens der russischen Armee in der Ukraine dürften Moskaus Waffenarsenale voll genug sein, um noch lange Not und Elend über das Nachbarland und dessen Bevölkerung zu bringen. 

Hinzu kommt, dass ein sofortiges Ende der Energielieferungen nicht nur die Russen hart träfe, sondern auch die Europäer. Und dies keineswegs nur in einem Maße, das angesichts der Leiden der Ukrainer als vergleichsweise geringes Übel gelten kann, sondern in einem Ausmaß, bei dem ein Zusammenbruch der westlichen Infrastruktur droht. Wem wäre damit geholfen? Den notleidenden Ukrainern jedenfalls nicht. Vielmehr wären Länder wie Deutschland und Polen, die in den letzten Wochen Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben, schon bald kaum mehr in der Lage, diese Hilfe aufrechtzuerhalten. 

Was immer also auch die westliche Politik an Antworten erwägen mag, sie möge dabei bedenken, nicht aus Wut und Verzweiflung über die unfassbaren Verbrechen in der Ukraine Selbstmord im eigenen Land zu begehen. 

Folgen für die Erinnerungskultur

Schon jetzt steht der Name Butscha in einer Reihe mit Orten wie Katyn, Babyn Jar, Oradour-sur-Glane und Nemmersdorf bis hin zu My Lai und Srebrenica oder Butare in Ruanda. Bereits diese kurze Auflistung, die sich beim Blick in die Geschichtsbücher beliebig fortsetzen ließe, zeigt, dass der Terror gegen die Zivilbevölkerung in Zeiten des Krieges viele Gesichter hatte – und immer weitere hinzukommen. 

In Deutschland war davon in den vergangenen Jahren freilich wenig zu spüren. Vielmehr wurde mit dem allmählichen Dahinscheiden der Erlebnisgeneration der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs das Gedenken an die deutschen Opfer jener Zeit nach und nach verdrängt, bis zuletzt nur noch die Erinnerung an deutsche Kriegsverbrechen übrig blieb. Als Bundespräsident Frank Walter Steinmeier vor wenigen Monaten zum Volkstrauertag sprach, listete er zahlreiche Orte deutscher Schandtaten auf – und erwähnte seine bei der Flucht und Vertreibung aus dem Osten oder bei alliierten Bombardierungen getöteten Landsleute mit keinem Wort. Eine solche Erinnerung weckt – auch wenn dies hart erscheinen mag – den Anschein, als gäbe es politisch opportune und weniger opportune Opfer. 

Die Verbrechen in den Kiewer Vororten zeigen jedoch nicht nur, dass ein solches Gedenken inhuman ist – sondern auch, wohin es führen kann. Während Deutschland die dunklen Seiten seiner Vergangenheit aufarbeitete und jeder, der deutsche Verbrechen relativiert, in diesem Lande gesellschaftlich geächtet ist, drücken sich andere Länder – wie eben gerade Russland – bis heute um eine Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Mit der Folge, dass eigene Schandtaten nie als solche benannt werden, sondern allenfalls als eine Art Kollateralschaden in einem grundsätzlich legitimen Kampf erscheinen – sowie auch mit der Folge, dass sich derlei Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer wieder wiederholen.