19.05.2024

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Folge 14-22 vom 08. April 2022 / Ukrainekrieg / In der Hölle von Mariupol / Eingeschlossen von den Kämpfen zwischen der ukrainischen und der russischen Armee, verharren zahllose Menschen in ihren Kellern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-22 vom 08. April 2022

Ukrainekrieg
In der Hölle von Mariupol
Eingeschlossen von den Kämpfen zwischen der ukrainischen und der russischen Armee, verharren zahllose Menschen in ihren Kellern
Manuela Rosenthal-Kappi

Es gibt kein Licht, keine Heizung, keine Lebensmittel und kein Wasser. In den Kellern Mariupols harren vor allem Frauen, Kinder und Alte aus, die es nicht geschafft haben, die Stadt rechtzeitig zu verlassen. 

Auf seinem Weg in die schwer zerstörte Stadt kommen dem Reporter Dmitrij Plotnikow von „lenta.ru“ Wagenkolonnen entgegen. Ausländische Luxusmodelle sind in den kilometerlangen Schlangen genauso zu sehen wie alte sowjetische Schigulis (Lada). 

Die in der Stadt Zurückgebliebenen dagegen hausen in den Kellern der Hochhäuser, darauf hoffend, dass sie nicht verschüttet werden. Unter erbärmlichen hygienischen Umständen verharren sie zu Dutzenden, in manchem Unterschlupf gar zu Hunderten in der Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende ist. Sie tragen mehrere Schichten Kleidung übereinander, denn nachts sinkt die Temperatur auf null Grad, und vom Meer weht ein eisiger Wind. Da jeder Gang nach draußen lebensgefährlich ist, verlassen sie oft tagelang ihr vermeintlich sicheres Versteck nicht. Draußen gibt es ohnehin nichts mehr zu kaufen. Die Läden wurden, kurz nachdem sie geschlossen worden waren, geplündert. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in den Außenbezirken von Mariupol. Dorthin gelangt zwar hin und wieder humanitäre Hilfe, aber auch dort haben die Menschen Angst, ihre Keller zu verlassen.

Diejenigen, auf die Plotnikow trifft, wirken stark traumatisiert. Eine Frau, deren Mann in der ostukrainischen Stadt umgekommen ist, will ihr Zuhause nicht verlassen, bevor er beerdigt wird. Eine alte Frau schleppt einen leeren Fünf-Liter-Wasserkanister und wiederholt ständig: „Gott erbarme dich, Gott hilf uns!“ Auf Ansprache reagiert sie nicht. Ein Junge versucht, sich auf einem Fahrrad einen Weg durch die Trümmer zu bahnen, aus den Ohren blutet er, was auf einer Druckwellenverletzung hindeutet.

Über der Stadt liegt eine Gestankwolke. Die Grünflächen sind übersät von Müll, den niemand mehr abholt. Aus den offenen Türen der Häuser riecht es nach abgestandener und verbrauchter Luft. An den Kellerabgängen brennen Feuer, auf denen die Bewohner Wasser abkochen oder versuchen, sich aus den spärlichen Resten ihrer Vorräte etwas zu kochen. Auf den Straßen liegen Leichen, sowohl zivile Opfer als auch Soldaten. In Häusernähe entstehen Friedhöfe, allerdings gelingt es nicht, alle zu begraben. Denn der Boden ist gefroren und so wartet man auf Tauwetter, während die Furcht vor einer Epidemie wegen der verwesenden Leichen wächst. 

Vielen ist ihr Zustand peinlich: „Entschuldigen Sie mich, ich sehe aus wie ein Obdachloser, dabei bin ich gebildet und habe eine gute Arbeit“ ist ein Satz, den Plotnikow häufig zu hören bekommt. Einige versuchen, trotz der widrigen Umstände ein würdiges Leben aufrechtzuerhalten, wie die 21-jährige Studentin Jekaterina. Sie achtet auf ihr Äußeres und glaubt fest daran, dass „die Menschen trotzdem das Schöne und Menschliche in sich bewahren können. Wir sind nicht die ersten, die wie Phönix aus der Asche steigen.“

Alle leiden unter ihrer Isolation. Sie hoffen, von anderen Neuigkeiten zu erfahren, da sie seit über einem Monat von Nachrichten abgeschnitten sind. „Ich weiß nichts über meine Verwandten, nichts über meine Freunde“, klagt eine weinende Frau. Das Ungewisse steigert sich zur unerträglichen Qual für die Eingeschlossenen. 

Beim Anblick ihrer Häuser brechen viele in Tränen aus. Für ihre Wohnung hatten sie jahrelang gespart, Kredite aufgenommen, und nun ist nichts mehr davon übrig. Ihre Welt ist eingestürzt. Vor ihnen liegt nur eine unbekannte Zukunft. Doch in den Kellern gibt es auch Hoffnung. Einige fragen sich, wie es nach dem Krieg und dem Wiederaufbau ihrer Stadt weitergehen wird. „Wir sind eine Industriestadt. Wir können nicht einfach so dasitzen und nichts tun. Wir können unsere Fabriken nicht aufgeben.“