19.05.2024

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Folge 14-22 vom 08. April 2022 / Vereinigte Landsmannschaften Flensburg e.V. / Juden in Flensburg der letzten 100 Jahre / Gershom ben Abraham Jessen, Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Flensburg, als Referent bei der VLM FL

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-22 vom 08. April 2022

Vereinigte Landsmannschaften Flensburg e.V.
Juden in Flensburg der letzten 100 Jahre
Gershom ben Abraham Jessen, Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Flensburg, als Referent bei der VLM FL
Michael Weber

Wie vorgesehen hörten wir am 15. März nach der Kaffeetafel den avisierten Vortrag über jüdisches Leben in Flensburg. Der Vorsitzende Hans Legies begrüßte neben Bärbel Hansen aus Tellingstedt als Gast den Vortragenden Gershom ben Abraham Jessen, den Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Flensburg, sowie den Journalisten und Autor Bernd Philipsen; dieser hatte über das Judentum in Flensburg geforscht und einiges publiziert. Er ergänzte die Ausführungen von Jessen.

Jessen, selbst Sohn eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter und daher, es geht stets nach der Mutter, ein Jude, könne nicht, wie er erläuterte, über 3000 Jahre Judentum bis zum heutigen Jahr 5782 (nach jüdischer Zeitrechnung) berichten; das sprenge den Rahmen. Er beschränke sich daher auf die jüngere Zeit der etwa letzten 100 Jahre.

Emil Löwenthal

In Flensburg gab es nie eine jüdische Gemeinde, die eine Kirche und einen Friedhof voraussetzt, allerdings von 1840 bis 1937 eine jüdische Gemeinschaft. Emil Löwenthal, ihr anerkannter Sprecher, Inhaber eines Möbelgeschäftes und innovativer Geschäftsmann, der zum Beispiel als einer der ersten Ratenzahlungen ermöglichte, knüpfte ab 1920 engere Beziehungen zur dänischen Minderheit; sie residierte im Flensborghus gegenüber seinem Geschäft.

Diese Kontakte entwickelten sich so gut, dass die dänische Minderheit der jüdischen Gemeinschaft Räumlichkeiten für das Gemeinschaftsleben sowie als Betraum zur Verfügung stellte. Der letzte Betraum war bis 1937 im „Roten Zimmer“ des Flensborghus untergebracht. Die erste eigene Synagoge der jüdischen Gemeinschaft, eine Synagoge ist nicht unbedingt eine Kirche, sondern zunächst nur „ein Raum, in dem Juden beten“, wie Jessen erläuterte, wurde in der Süderfischerstraße eingerichtet.

Das Leben der Juden in Flensburg verlief zunächst überwiegend problemlos, allerdings gab es immer wieder antisemitische Aktionen und auch die Sparkasse Satrup schloss sich bereits früh, im Jahr 1903 mit einem Plakat „kauft nicht bei Juden“, an. Mit der Zeit verschlechterte sich die Lage der Flensburger Juden, es kam zu Einschränkungen und ab 1933 zu den aus dem ganzen Reich bekannten Verfolgungen, Deportationen und Vernichtungen. 

Da die jüdischen Schüler und Auszubildenden von den Ausbildungseinrichtungen verwiesen oder aus ihren Beschäftigungsverhältnissen entlassen wurden, hatte die wenigstens bis 1933 sehr gut in Flensburg integrierte jüdische Familie Wolff Gut Jägerslust im heutigen Stiftungsland im Westen Flensburgs gekauft, ausgebaut und in eine Kibbuz-ähnliche Ausbildungsstätte umgewandelt. Sich auf seine jüdischen Wurzeln besinnend schuf Alexander Wolff ein Zentrum, in dem die Menschen sich nun auf ein Leben in Israel vorbereiten konnten und die dazu notwendigen, meist landwirtschaftlichen Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes Leben erlernten. Diesem wurde abrupt durch einen vom Flensburger Polizeipräsidenten geleiteten Überfall von SA und SS auf Gut Jägerslust mit Plünderung, Brandschatzen und Verhaftung aller ein Ende bereitet; die weiblichen Personen kamen wieder frei, die männliche Jugend kam in die Konzentrationslager. Nur Sohn Alexander Wolff konnte mit Hilfe unbekannter Funktionäre vor geplanter Verhaftung nach Dänemark entkommen, seine ganze Familie jedoch wurde umgebracht.

1937 gab es in Flensburg 43 Menschen jüdischen Glaubens, von denen nur einer überlebte.

Die letzte Jüdin Flensburgs bis Kriegsende war Juliane Waak, geb. Kauder, die als Tochter jüdischer Eltern mit einem Christen verheiratet war und in einer sogenannten privilegierten Mischehe lebte. Diese Eheform gab es bis 1944, sie ermöglichte zwar ein (Über-)Leben, war aber gewaltigen Einschränkungen unterworfen: Keine Essensmarken; keine Erlaubnis, Haustiere zu halten; Pass mit Judenstempel; Auflage, sich wöchentlich bei der Gestapo zu melden und dergleichen mehr. Sie überlebte mit Hilfe von Nachbarn, die ihr ab und an Essen zukommen ließen. 

Die letzte Jüdin in Flensburg

Unmittelbar nach dem Kriege wurde ein kleines Büro für die letzten versprengten Juden eingerichtet, sonst gab es bis in die 1990er Jahre kein jüdisches Leben in Flensburg. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als etwa 120.000 Ostjuden nach Deutschland emigrierten, kamen auch einige von ihnen nach Flensburg. Die hiesigen Juden wurden zunächst Mitglieder der jüdischen Gemeinde Hamburgs, bis die stetig zunehmende Zahl eine selbstständige Gemeinde in Flensburg ermöglichte. Die gut 100 Jahre alte Tradition einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit der dänischen Minderheit wurde erneuert und damit fortgesetzt, das erste Gemeindehaus war in einem der dänischen Minderheit gehörenden Haus in der Toosbyestraße, später zog man in die Friesische Straße um. Die jüdische Gemeinde Flensburg ist mit etwa 100 Mitgliedern die kleinste ihrer Art in Deutschland, die darüberhinausgehende jüdische Gemeinschaft umfasst auch Familienangehörige und andere Personen, die keine Gemeindemitglieder sind, und hat etwa 250 Mitglieder. Verteilt auf 14 Nationen sind es neben Deutschen meist Dänen, Israeli, Franzosen, Balten und als stärkste Fraktion mit etwa 40 Mitgliedern Ukrainern, Russen und andere Personen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Dadurch ist die Umgangssprache in der Gemeinde meist russisch, daneben Ivrit, welches etwa acht Mitglieder sprechen. Das Einzugsgebiet der Gemeinde ist hauptsächlich der Landesteil Schleswig, reicht darüber hinaus aber bis Kiel im Süden und Kolding im Norden und erstreckt sich so grob über das alte Herzogtum Schleswig.

Jüdische Gemeinden unterteilen sich in liberale, orthodoxe und andere, in Schleswig-Holstein gibt es drei orthodoxe und fünf liberale Gemeinden; die Flensburger Gemeinde zählt zu den orthodoxen. Die Unterschiede bestehen hauptsächlich in der Liturgie und der Strenge, in der die Riten praktiziert werden. So wird ein orthodoxer Gottesdienst ausschließlich in hebräischer Sprache gehalten und dauert drei bis dreieinhalb Stunden, in denen nur gebetet wird; es gibt keine Predigt und keine Musik. Gottesdienste der liberalen Gemeinden sind lockerer. Eine jüdische Gemeinde hat neben der religiösen auch zahlreiche zivile beziehungsweise Verwaltungsaufgaben und fungiert als zuständige Behörde bei zum Beispiel Eheschließungen und Scheidungen, als Notariat oder regelt die Beziehungen zum Staat Israel. Einen eigenen Rabbiner hat die Gemeinde nicht, dafür wären die Kosten von monatlich rund 10.000 Euro nicht zu bewältigen. Da dies auch für andere Gemeinden zutrifft, gibt es in Deutschlands ein System, über das Rabbiner gebucht, also ausgeliehen werden können. Ein Rabbiner muss kein Theologe sein, sondern es kann jedes Gemeindemitglied diese Funktion ausüben, sofern er die Liturgie beherrscht.

Nahezu kein Antisemitismus

Inzwischen ist die jüdische Gemeinde ein kleiner, aber anerkannter Teil Flensburgs und des Umlandes und in das gemeinschaftliche Leben sehr gut integriert. Wie Jessen erklärte, gibt es heutzutage nahezu keinen Antisemitismus in Flensburg. An die andere, gottlob vergangene Zeit erinnern mehrere Stolpersteine in der Stadt.

Dem mit viel Applaus bedachten Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an, die zeigte, dass das Wissen um den jüdischen Glauben und über die jüdischen Mitbürger doch recht gering war.

Der Vorsitzende dankte den Referenten, übergab einen edlen Tropfen zur „Nachbereitung“ und äußerte die Hoffnung, dass Gershom b. A. Jessen zu einem weiteren Vortrag bereit wäre. Dieser sagte zu.

Der Nachmittag schloss mit dem Ostpreußen- wie Pommernliedes, welche wir erstmals seit langer Zeit wieder singen konnten.