19.05.2024

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Folge 14-22 vom 08. April 2022 / Zum 200. Geburtstag / Johann Friedrich Theodor Müller / Bedeutendster Naturforscher seiner Zeit wirkte im brasilianischen Blumenau im Bundesstaat Santa Catarina

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-22 vom 08. April 2022

Zum 200. Geburtstag
Johann Friedrich Theodor Müller
Bedeutendster Naturforscher seiner Zeit wirkte im brasilianischen Blumenau im Bundesstaat Santa Catarina
Martin Stolzenau

Blumenau am Unterlauf des Rio Itajai, rund 500 Kilometer südlich von Sao Paolo in Brasilien, wurde von Deutschen begründet und ist heute eine Viertelmillionenstadt mit einer deutschen Bevölkerungsmehrheit, typisch deutschen Fachwerkbauten und dem vor Corona alljährlich zweitgrößten Oktoberfest auf der Welt. Die Stadt hat Industriebetriebe, Rundfunk- sowie Fernsehanstalten und eine Universität, besitzt das höchste Bruttosozialprodukt des ganzen Landes und verehrt einige herausragende Persönlichkeiten mit deutscher Herkunft. 

Zu diesem Kreis der Blumenauer Berühmtheiten gehört auch Johann Friedrich Theodor Müller aus Thüringen, der in Greifswald studierte, in Vorpommern als Freidenker einige Jahre unter kirchlichen Vorbehalten litt und sich dann nach Auswanderung in Brasilien zu einem der „bedeutendsten Naturforscher seiner Zeit“ entwickelte. 

Wegen seiner Tätigkeit in der Stadt Desterro wurde der Thüringer als „Müller-Desterro“ bekannt. Er erkannte als erster Forscher die „Bedeutung der Em­bryologie“, gilt als Vater des „Biogenetischen Grundgesetzes“, pflegte mit Charles Darwin sowie Ernst Haeckel einen regelmäßigen Gedankenaustausch auf Augenhöhe und fand mit seinen Erkenntnissen in über 250 wissenschaftlichen Veröffentlichungen weltweite Anerkennung bis hin zur Berufung in berühmte internationale Akademien wie der En­tomological Society London und der Leopoldina in Halle. 

In Blumenau tragen Stadtbibliothek, Stadtarchiv und Straßen seinen Namen. „Müller-Desterro“ ist in Brasilien so allgegenwärtig wie Haeckel in Deutschland. Doch in seiner deutschen Heimat ist der Vorzeige-Biologe nur noch Fachleuten ein Begriff und ansonsten unbekannt. Allein in seinem Thüringer Geburtsort erinnert eine Gedenktafel an den berühmten Sohn.  

„Müller- Desterro“ wurde am 31. März 1822 in Windischholzhausen bei Erfurt geboren, war mütterlicherseits ein Enkel des berühmten Erfurter Apothekers und Chemikers Johann Bartholomäus Trommsdorff und wurde von der Familie „Fritz“ gerufen. Sein Vater fungierte zunächst in Windischholzhausen und dann in Mühlberg als Pfarrer. Er ermöglichte dem Jungen den Besuch des Erfurter Gymnasiums mit weiterführenden naturwissenschaftlichen Unterweisungen im Trommsdorff-Haus. Es folgten eine Apothekerlehre in Naumburg und dann der Wechsel an die Universitäten in Greifswald und Berlin. 

Er studierte hauptsächlich Naturwissenschaften sowie Mathematik, wurde zum Oberlehrer examiniert und zum Dr. phil. promoviert. Danach widmete sich Müller in Greifswald dem speziellen Medizinstudium. Doch als sich der Pfarrerssohn als Freidenker vor der medizinischen Promotion weigerte, den Eideszusatz „so wahr mir Gott helfe“ zu gebrauchen, kam er im gottesfürchtigen Vorpommern in Schwierigkeiten. Das gedieh zur jahrelangen Kontroverse. 

Müller verweigerte hartnäckig den Kircheneid, musste sich in der damit verbundenen Warteschleife mit einer jahrelangen Hauslehrertätigkeit in Vorpommern begnügen und heiratete 1852 in Loitz die Tagelöhnertochter Carolina Tollner. Loitz liegt an der Peene, erhielt 1212 das lübische Stadtrecht und gehört heute als Landstadt mit interessanten Altstadtbauten zum Landkreis Vorpommern-Greifswald. Nach der Loitzer Heirat verlor Müller angesichts der fortdauernden Behinderung in Vorpommern die Geduld. Er verließ mit seiner Ehefrau, der gerade geborenen ersten Tochter und seinem jüngeren Bruder August über Hamburg voller Enttäuschung Deutschland, um sich in der von Deutschen begründeten Kolonie Blumenau anzusiedeln.  

Große Anerkennung

Das war eine einschneidende Zäsur. Statt der Akademikerlaufbahn erfüllte ihn für Jahre harte Farmerarbeit. Für naturwissenschaftliche Forschungen war kaum Zeit. 1856 wurde Müller dann mit seiner Qualifikation als Lehrer in das Lyzeum der Provinzhauptstadt Desterro berufen. Er begann eine ungewöhnliche Forschungsarbeit, trat mit Veröffentlichungen hervor und wurde zum Professor erhoben. Die Palette seiner Forschungsthemen reichte von der Morphologie und Entwicklungsgeschichte von Flusstieren mit der Beweisführung für die Theorien von Charles Darwin, die er im Buch „Für Darwin“ veröffentlichte, und Untersuchungen zur Ontogenie mit der Begründung des „Biogenetischen Grundgesetzes“ über Fragen der Blütenökologie und des anatomischen Baus der Lianenstämme bis zur Erforschung der Verbreitungsmechanismen von Früchten und Samen.

Über seine Erkenntnisse pflegte er mit Fachkollegen auf der ganzen Welt einen regen Gedankenaustausch. Das trug ihm die Berufung in zahlreiche internationale Akademien ein. Alles schien bestens. Doch wieder kam er mit Repräsentanten der Kirche in Konflikt. Dieses Mal waren es Jesuiten, die den Freidenker aus seiner Stellung und aus Desterro vertrieben. So kehrte er 1867 zurück nach Blumenau, das sich mit ihm zum Naturforschungszentrum entwickelte mit internationaler Sogwirkung. 

Müller-Desterro erhielt 1868 zusammen mit Charles Darwin die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn, galt als „reisender Naturforscher“, bekam eine Anstellung am Nationalmuseum Brasiliens mit vielen Forschungs-Freiheiten und reihenweise Angebote von renommierten Universitäten vor allem aus Deutschland, die er aber alle ablehnte. Er blieb nach seinen Greifswalder Erfahrungen Brasilien treu. Der deutschfreundliche Kaiser Dom Pedro II. wusste diese Treue zu schätzen und sorgte für einige Ehrungen. 

Aber dann gab es einen Machtwechsel. Auf den Kaiser folgte eine republikanische Regierung, die die Freiheiten Müllers stark beschnitt und 1892 seine ständige Anwesenheit in Rio de Janeiro verlangte. Müller-Desterro, der mehrere Sprachen beherrschte und weitere zehn Sprachen lesen konnte, war inzwischen 70 Jahre alt und eine international geschätzte Koryphäe. Der Vorzeige-Biologe ließ sich nicht kommandieren und wurde prompt aus allen staatlichen Ämtern ohne jegliche Entschädigung entlassen. 

Müller-Desterro verlebte die letzten Lebensjahre in wachsender Armut in Blumenau, er starb hier am 21. Mai 1897, fand seine letzte Ruhe auf dem evangelischen Friedhof der Stadt und wurde anschließend in einem Nachruf in der Blumenauer Zeitung wie folgt gewürdigt: „Schlafe denn in Frieden teurer Freund, Dir ist die Unsterblichkeit gewiß!“ Außer seinem wissenschaftlichen Lebenswerk hinterließ er zehn Kinder.