20.05.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 15-22 vom 14. April 2022 / „Unser Mut. Juden in Europa 1945–48“ / Ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte / Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung zeigt seine erste Sonderausstellung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-22 vom 14. April 2022

„Unser Mut. Juden in Europa 1945–48“
Ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte
Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung zeigt seine erste Sonderausstellung
Dirk Klose

Nachdem im vergangenen Jahr das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung eröffnet worden ist, zeigt es nun seine erste Sonderausstellung. „Unser Mut. Juden in Europa 1945–48“ lautet der Titel der Ausstellung, und am 30. März wurde sie im Dokumentationszentrum im Beisein von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) eröffnet. In zahlreichen Bildern und gedruckten Medien, in Filmen und Tondokumenten zeigt sie das Nachkriegsschicksal der dreieinhalb Millionen Juden in Europa zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung des Staates Israel.

Bedrückende Bilder

Die Konzeption der Ausstellung ist aus einem Forschungsprojekt am Jüdischen Museum Frankfurt hervorgegangen. Mehr und mehr wurde es als ein Desiderat empfunden, dass zwar die Shoa inzwischen gut erforscht ist, dass aber über die Nachkriegsjahre der Betroffenen nur wenig bekannt ist. Nun zeigt die Fülle der ausgestellten Zeugnisse, wie vital der Überlebenswille war, wie unterschiedlich aber auch die Möglichkeiten, in ein normales Leben zurückzukehren.

Die Ausstellungsmacher wählten dafür beispielhaft sieben Orte. Die polnische Stadt Bialystok, in der vor dem Krieg die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war, wurde zum Auffangbecken für viele Überlebende aus Polen selbst und aus der Sowjetunion. Vor dem Krieg hatte es ein blühendes Gemeindeleben gegeben; die Ausstellung zeigt anhand teils bedrückender Bilder und Filmaufnahmen, wie dieses im Krieg zerstört wurde und nach Kriegsende keine neue Gemeinde mehr entstand.

Genau das Gegenteil erlebte der kleine schlesische Ort Reichenbach [Dzierzoniow]. Nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung bauten die ankommenden Überlebenden rasch ein neues Gemeindeleben auf und machten den Ort, wie Bilder, Dokumente und Wochenschauaufnahmen mit vielen fröhlichen Menschen zeigen, zu einem, so sagt es die Ausstellung, „jüdischen Hoffnungsgebiet“.

Neben Bialystok in Polen und Reichenbach in Ostdeutschland bildet Ost-Berlin in Mitteldeutschland einen weiteren der sieben Beispielorte. Ausschnitte aus Wochenschauen zeigen, wie gezielt sich die SED bemühte, das Gedenken an die Opfer in die eigenen politischen Kanäle zu lenken. Zu sehen sind endlose Aufmärsche und Kranzniederlegungen, zwischen SED-Mitgliedern marschieren Überlebende in typischer KZ-Kluft. Ein Tondokument, gelesen von einer Schauspielerin, gibt einen berührenden Text der damals gerade zurückgekehrten und seinerzeit noch im Westen Berlins lebenden späteren Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, Anna Seghers, wieder, in dem sie sich bitter über neu-alte Mentalitäten vieler Deutscher äußert.

Die Ausstellung macht deutlich, das in Budapest und Amsterdam noch bestehende Strukturen einen Neubeginn jüdischen Lebens erleichterten. In Budapest – Großaufnahmen zeigen die grausam zerstörte Stadt nach 1945 – hatten etwa 140.000 Juden überlebt. Nachdem die Kommunisten an die Macht gelangten waren, lösten sie alle zionistischen Vereine auf.

Das intensivste jüdische Leben gab es in der US-amerikanischen Besatzungszone Deutschlands. Dort hatte die Militärverwaltung mehrere Camps für Zivilpersonen, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnten, sogenannte Displaced Persons (DP), errichtet. Eines der größten dieser Camps befand sich in Zeilsheim bei Frankfurt. Dort konnten die Ausstellungsmacher besonders viele Bild- und Filmdokumente ausfindig machen. Es entstand so etwas wie neues jüdisches Leben. Die Menschen feierten miteinander, ungewöhnlich viele Hochzeiten fanden statt, der Alltag wurde weitgehend in Eigenregie geregelt.

Wiedergeburt jüdischen Lebens

Die Nachkriegsjahre waren auch Jahre einer großen künstlerischen Kreativität. Fast überall entstanden neben Zeitungen und Zeitschriften auch Gemälde und Graphiken, welche die erlebten Schrecken der Lager zum Inhalt hatten. In entsprechenden Leihgaben aus jüdischen Museen in aller Welt spiegeln sich Hoffnung und Grauen gleichermaßen wider.

In der östlichen, nach dem Krieg sowjetisch dominierten beziehungsweise beherrschten Hälfte Europas hat sich nur langsam wieder jüdisches Leben entfaltet. Auch nach dem Ende von Krieg und Nationalsozialismus kam es dort zu zahlreichen Pogromen. Wie verbreitet diese in Polen, der Slowakei und Ungarn waren, wird in der Ausstellung durch eine Karte verdeutlicht. Diese Pogrome, von denen das im polnischen Kielce sicherlich das bekannteste ist, hatten zur Folge, dass sich viele Überlebende nicht mehr sicher fühlten und in den Westen zogen. 

Vor diesem Hintergrund wuchs das Camp in Zeilsheim beträchtlich. Dort erschien auch eine eigene Zeitung – ein Exemplar ist in der Ausstellung zu sehen – mit dem Titel „Unser Mut“. Der Zeitungstitel war einem jiddischen Partisanenlied aus dem Jahr 1943 entlehnt und bildet nun den Titel der Ausstellung.

Einen kurzen Blick wirft die Ausstellung nach New York zu den damals noch jungen Vereinten Nationen. Es waren jüdische Emigranten, die maßgeblich an der Menschenrechtskonvention und der Ächtung des Völkermords mitwirkten. Zu sehen ist auch David Ben-Gurion, wie er am 14. Mai 1948 mit der Verkündung der israelischen Unabhängigkeitserklärung den modernen Staat Israel ausruft. Viele jüdische Überlebende sind daraufhin dorthin emigriert. Der siebte Ort Bari war Anlaufstelle für zahllose Auswanderer dorthin.

Trotz aller Aufbruchstimmung spürt der Besucher die Schrecken der Vergangenheit. Gleich zu Beginn trifft er auf eine hohe Stellwand, auf der weit über hundert maschinen- oder handgeschriebene amtliche Suchmeldungen befestigt sind. Darüber steht das Bekenntnis eines Rabbiners: „Von niemandem erlaubt – wir werden trotzdem gehen. Von niemandem geführt – wir werden trotzdem ,marschieren‘. Von niemandem gelehrt – wir werden trotzdem schöpferisch sein.“

Die Ausstellung „Unser Mut. Juden in Europa 1945–48“ ist im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90, 10963 Berlin, bis zum 30. September dienstags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr zu sehen, Telefon (030) 2062998-0, E-Mail: info@f-v-v.de, Internet: www.flucht-vertreibung-versoehnung.de.