20.05.2024

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Folge 17-22 vom 29. April 2022 / Emigration in der Geschichte / Fünf Wellen des Exodus / Politische Umbrüche, Repressalien und Verfolgung führten immer wieder zur Abwanderung der „Intelligenzija“

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-22 vom 29. April 2022

Emigration in der Geschichte
Fünf Wellen des Exodus
Politische Umbrüche, Repressalien und Verfolgung führten immer wieder zur Abwanderung der „Intelligenzija“

Von 1917 bis heute zählt die Geschichtswissenschaft fünf Auswanderungswellen aus Russland. Die erste Welle fand nach dem Bürgerkrieg statt. Etwa zwei Millionen Menschen flohen nach Konstantinopel, Sofia, Belgrad, Prag, Paris, Riga und nach Berlin. In der Zeit der Weimarer Republik lebten fast 360.000 russische Emigranten in Berlin. Im Berliner Stadtteil Charlottenburg sammelte sich in den 1920er Jahren die russische Elite, was dem Stadtteil die Bezeichnung „Charlottengrad“ verlieh. 28.000 russische Staatsbürger waren 2019 in Berlin gemeldet.

Die zweite Auswanderungswelle betraf 8,4 Millionen Sowjetbürger, die aus unterschiedlichen Gründen in den Westen gelangt waren. Rund zwei Millionen kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht in die Sowjetunion zurück. Unter ihnen befanden sich befreite Häftlinge aus Konzentrationslagern, Holocaust-Überlebende, Ostarbeiter oder Verbündete der Deutschen in Osteuropa. Bei einer Rückkehr drohte ihnen die Verfolgung als Verräter durch Stalin. 

Erzwungen oder freiwillig

Am Ende des Kalten Krieges kam es zu einer dritten Auswanderungswelle. 1966 legalisierte die Sowjetunion die Auswanderung aus der UdSSR. Der sowjetische Außenminister Alexej Kosygin sagte damals: „Wenn es vom Krieg zerrissene Familien gibt, die ihre Verwandten außerhalb der UdSSR treffen oder sogar die UdSSR verlassen möchten, werden wir alles tun, um bei der Lösung des Problems zu helfen.“ 576.000 Menschen machten zwischen 1970 und 1990 von dieser Möglichkeit Gebrauch. Nach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kam es zu Dissidenten- und Bürgerrechtsbewegungen in den Ostblockstaaten. Prominente Dissidenten dieser Welle waren Lew Kopelew und Alexander Solschenyzin. Die Historiker unterscheiden zwischen einer erzwungenen und einer freiwilligen Emi-gration.

Michail Gorbatschows Perestrojka und der Fall des Eisernen Vorhangs führten zu einer Normalisierung grenzüberschreitender Bewegungen, die in den 1990er Jahren zur vierten Auswanderungswelle führte. Von 1992 bis 1999 zogen nach Angaben der Aufnahmestaaten 850.000 Menschen in die USA, nach Kanada, Israel, Deutschland und Finnland.

Die fünfte Welle der Emigration fällt in die dritte Amtszeit Wladimir Putins, die geprägt ist von einer Politik des steigenden Drucks und der Unterdrückung Andersdenkender. Bekannte Persönlichkeiten der fünften Welle sind Boris Beresowskij, der 2013 unter mysteriösen Umständen im Londoner Exil starb, der Medienmogul Wladimir Gussinskij und der Unternehmer Leonid Newslin.

Im vergangenen Jahrzehnt sind 60.000 bis 80.000 Russen jährlich in den Westen gezogen, teils, um dem politischen Druck zu entgehen, teils wegen des Mangels an wirtschaftlichen Möglichkeiten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums gaben im vergangenen Jahr 22 Prozent der Befragten an, dass sie auswandern wollten, unter den 18- bis 24-Jährigen waren es 48 Prozent.

Die Auswanderungsstimmung hat die Basis der städtischen Mittelschicht erfasst. Der Kreml hat inzwischen auf den Exodus der Fachkräfte reagiert: Für männliche IT-Fachkräfte wurde die Wehrpflicht abgeschafft. Günstige Darlehen und Steuervergünstigungen sollen sie von der Ausreise abhalten. MRK