20.05.2024

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Folge 17-22 vom 29. April 2022 / Ukrainekrieg / Das Modell Mehrvölkerstaat erneut in der Krise / Die ethnische Zerrissenheit der Ukraine hat wesentlich zur Eskalation des Konflikts beigetragen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-22 vom 29. April 2022

Ukrainekrieg
Das Modell Mehrvölkerstaat erneut in der Krise
Die ethnische Zerrissenheit der Ukraine hat wesentlich zur Eskalation des Konflikts beigetragen
Norman Hanert

Wenn professionelle Beobachter des Ukrainekriegs Vergleiche mit früheren Konflikten ziehen, dann nennen sie recht häufig das Beispiel der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre. Mal geht es dabei darum, die Behauptung richtigzustellen, der Krieg in der Ukraine sei der erste Krieg in Europa seit 1945. Mal geht es um die staatliche Anerkennung des von Serbien abgespaltenen Kosovo als Vorbild für die Separationsbestrebungen in der Ostukraine.

Bemerkenswert selten spielt in den Betrachtungen eine Rolle, dass nach den untergegangenen Mehrvölkerstaaten Jugoslawien und Tschechoslowakei nun mit der Ukraine erneut ein Staatsgebilde um seine Existenz ringt, dessen Bewohner offenbar längst nicht alle eine gemeinsame nationale Identität eint.

Im Rückblick als sehr hellsichtige Diagnose haben sich die Überlegungen zur Ukraine erwiesen, die Samuel Huntington schon 1996 in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ publizierte. In einem Kapitel zur Ukraine beschrieb der amerikanische Historiker das Land als ein zerrissenes – mit einer kulturellen und religiösen Bruchlinie zwischen Regionen, die historisch römisch-katholisch und christlich-orthodox geprägt seien. Als wahrscheinlichstes Szenario für die Zukunft sagte Huntington eine Trennung in eine Ost- und eine Westukraine voraus.

Ethnisch ist die Situation in der Ukraine allerdings noch differenzierter. Eine offizielle Volkszählung im Jahr 2001 ergab zwar, dass mit einem Anteil von 77,8 Prozent die Ukrainer die größte Bevölkerungsgruppe bildeten, mit mehr als 17 Prozent stellten Russen den zweitgrößten Anteil an der Bevölkerung. Dazu zählten die Statistiker noch Dutzende weitere Ethnien, darunter als größere Volksgruppen Rumänen, Weißrussen, Krimtataren, Bulgaren, Ungarn und Polen.

Spaltung statt Brücke

Bereits im Mai 2014, also nur wenige Monate nach dem Maidan-Umsturz, hatte der Journalist Andreas Plecko im „Wall Street Journal“ die Entwicklung des untergegangenen Vielvölkerstaats Jugoslawien mit der der Ukraine verglichen und dabei einen starken Unterschied festgestellt: „Im Fall Jugoslawiens trug die Aussicht auf einen EU-Betritt zum Ende des Konflikts bei“, so Plecko. „Aber im Fall der Ukraine hat die gleiche Aussicht den vor sich hin köchelnden Konflikt erst zum Sieden gebracht.“

Ähnlich pessimistisch wie schon Jahre zuvor Huntington wies Plecko auf die Gefahr hin, dass die Ukraine „den fatalen Weg Jugoslawiens“ gehen könnte. Plecko empfahl in seinem Essay, die Ukraine solle mit ihrer Doppelidentität „zu einer Brücke zwischen Westeuropa und Russland werden“.

Verfolgt haben die Regierungen in Kiew und die EU-Kommission allerdings das Konzept einer kompromisslosen Westbindung. Angesichts der Ost-West-Spaltung der Gesellschaft hätte eigentlich allen politische Verantwortlichen klar sein müssen, dass allein schon der Versuch, die Ukraine zum Vollmitglied von EU und NATO zu machen, ein extrem schwieriges Unterfangen darstellt. Anstatt etwa nach dem Vorbild der Schweiz eine Balance zwischen den Volksgruppen zu probieren, haben die seit 2014 in Kiew amtierenden Regierungen obendrein versucht, parallel zur Westorientierung über geänderte Sprachengesetze auch noch eine Ukrainisierung des ethnisch so vielfältigen Landes zu forcieren.

Deutliche Kritik daran war aus Russland, Ungarn und Rumänien zu hören, allerdings nicht von der EU-Kommission oder hiesigen politischen Parteien, die sonst regelmäßig die Überwindung des Nationalstaats und multikulturelle Vielfalt als wichtige Politikziele nennen.