20.05.2024

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Folge 17-22 vom 29. April 2022 / Brücken / In Friedenszeiten gebaut, im Krieg zerstört / Schicksalhaft verband die Weichselbrücke in Fordon Deutsche und Polen während und nach dem Zweiten Weltkrieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-22 vom 29. April 2022

Brücken
In Friedenszeiten gebaut, im Krieg zerstört
Schicksalhaft verband die Weichselbrücke in Fordon Deutsche und Polen während und nach dem Zweiten Weltkrieg
Paul E. Nowacki

Durch den Austausch von Familiengeschichten entstand bei meiner privat angestellten polnischen Krankenschwester und Haushälterin, Elisabeth Weisenberger, der Wunsch, dass ich ihr einmal das Familienalbum zeige und kommentiere. 

Dieses beim ersten Angriff der Roten Armee auf meine Geburtsstadt Schneidemühl am Vormittag des 26. Januar 1945 von mir gerettete Fotoalbum hat eine „besondere Geschichte“. 

In der Hasselstraße 13 wartete meine Mutter mit mir bei ihrer Schwester Hedwig Zillmer mit meinem Cousin und den drei Cousinen auf deren Mann, den leitenden Werkzeugmeister bei den Flugzeugwerken Albatros. Onkel Franz Zillmer hatte ein Fluchtauto auf dem Hof der Autoreparaturwerkstatt Paul Sodtke, Marktplatz 5, schon bereitgestellt. Die Beschlagnahme desselben nachmittags durch die Wehrmacht und die Ereignisse danach habe ich im Schneidemühler Heimatbrief schon publiziert. 

Als die ersten Granaten auf dem großen Wirtschaftshof der Hasselstraße 13 gebäudezerstörend einschlugen, war dies mit meinen 10,4 Jahren ein „Weckruf“. Ohne Auftrag verließ ich unbemerkt die Dachwohnung im Vorderhaus und lief im fortsetzenden Beschuss über den Markt, die Hauptgeschäftsstraße, die lange prächtige Posener, zur kreuzenden Zeughausstraße bis zum großen Eckhaus Nr. 7. 

In unserem mit Lattenrosten nicht einmal verschlossenen dunklen Keller, Unterkunft für hunderte Fledermäuse, in einer Ecke die beiden Ledertaschen. Eine mit zwei Fotoalben und Zeugnissen, die andere vollgepackt mit Zigaretten, Zigarren und Tabak. Letztere hat uns die Flucht auf dem Weg über Deutsch Krone und weiter nach Westen, manchmal zwischen Militärkolonnen, mit dem rettenden Dreiradauto – von Onkel Franz bis in die späten Abendstunden repariert – aus dem brennenden Schneidemühl ermöglicht. 

Das gerettete Album

Nun zum Album! Beim Umblättern stieß Elisabeth auf die Seite mit den Fotos von der zerstörten Weichselbrücke. Diese im Kontrast zu dem stolzen monumentalen Bauwerk der intakten Brücke. Das große Schild Fordon – Bydgoszcz mit der deutschen Baukolonne sowie meinem Vater mit einer geschulterten Axt war für die polnische 61-jährige Frau ein „psychischer Schock“. Irgendwie spürte ich die in der inneren Tiefe liegende Ablehnung vieler Polen wider uns Deutsche, ob im Krieg oder danach irgendwie „schuldig“. Mit ei-nem ruhigen, klärenden Gespräch ließ sich unsere freundschaftliche Beziehung wiederherstellen. 

Die Nachkriegsgeneration nach 1945 von Bromberg [Bydgoszcz] mit dem eingemeindeten Fordon lebt immer noch in der Vorstellung, dass die deutsche Luftwaffe am 2. September 1939 die Brücke von Fordon zerstört hätte. Selbst die Piloten glaubten zunächst daran, als beim Überfliegen und Bombenabwurf die Brücke zusammenbrach und in Teilen in den breiten Weichselstrom eintauchte. Tatsächlich sprengte das polnische 15. Pionierbatallion der 15. Infanteriedivision aus Bromberg die Minenkammern in den Pfeilern des Wunderwerks der französisch-deutschen Ingenieurkunst – erbaut 1887 bis 1889 und konzipiert von dem Franzosen Gustave Eiffel, dem Erbauer des Eiffelturms. 

Für eine lange anti-nationalsozialistische Stimmung und Verachtung des Kriegstreibers Adolf Hitler trug nach dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 auch die völkerrechtswidrige Zuordnung von Fordon zum Landkreis Bromberg im neuen Reichsgau Danzig-Westpreußen bei. Mit diesem Wissen machte die in Bromberg geborene Elzbieta Stuczynska (*8. Juni 1960) ihr Abitur. 

Darüber hinaus standen Alt und Jung in Bromberg unter dem Trauma der Massenhinrichtungen von zirka 5000 Ein-wohnern aus Bromberg und Umgebung, vor allem Lehrer, Beamte, Intellektuelle und Priester. Es war der „Volksdeutsche Selbstschutz“ unter Ludolf-Hermann von Alvensleben und das „Einsatzkommando 16“ der Gestapo. 

Arbeitslos als Kommunist

Wie kam nun mein Vater, Paul Nowacki, geboren am 17. Mai 1912 in Niebede, Kreis Havelland, zu seinem Einsatz beim Wiederaufbau der Brücke in Fordon, zumindest ihrer Funktionsfähigkeit? In den Anfangsjahren der NS-Herrschaft in Schneidemühl, schon zu Beginn der 30er Jahre, lieferte er sich mit Freunden als Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation viele Saalschlachten mit SA-Männern. Die Folge war, dass er immer wieder arbeitslos als Zimmermann war und damit große Armut der Familie mit zwei Kindern (Paul und Schwester Brigitte, 1934 und 1936 geboren) bescherte. Deshalb meldete er sich zum Arbeitseinsatz nach Berlin, wo er am Bau der Berliner Autobahnen als Zimmermann beim überquerenden Brückenbau eingesetzt wurde. Meine kranke Mutter musste für das sehr große Eckhaus der Zeughausstraße 7 seine Funktion als Hausverwalter des Besitzers, des Juden Max Simonsohn, der in Potsdam lebte, übernehmen. Sie hatte Stube und Küche im zweiten Stock, Toilette unten im Erdgeschoss, gemeinsam mit den Angestellten des großen Fahrradgeschäftes. Not und Elend herrschten bei Nowackis, mit Besserung durch mehr Geldüberweisungen aus Berlin. Davor hatten sie nur 13 bis 15 Reichsmark pro Woche zum Leben. 

Nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 um 5:45 Uhr auf Polen wurde auch mein Vater, wie seine Berliner Arbeitskollegen, als Soldat eingezogen und eingekleidet. Vom Brom-berger Bautrupp ging es als Soldat weiter mit der Wehrmacht, Polen besetzend. Danach nahm er als Gefreiter einer Vierlings-Flugabwehr-Flak am Krieg teil, die vorwiegend am Boden zur Abwehr anstürmender Russenkompanien eingesetzt wurde. Der Feldzug gegen die UdSSR begann am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung durch Adolf Hitler. Die für den russischen Winter schlecht ausgerüsteten Soldaten erreichten dennoch die Grenze Moskaus. In der Heimat nähten die Frauen, auch meine Mutter, Felle in die Ohrenschützer. 

Stalin befahl General Georgij Schukow, die Verteidigung Moskaus zu organisieren, obwohl er in den Monaten davor viele Fehler mit der schwachen Roten Armee gemacht hatte, indem er tausende Soldaten in sinnlosen Gegenangriffen verheiz hatte. Seine im Dezember 1941 erfolgreiche Gegenoffensive, mit welcher Schukow 1943 die größte Panzerschlacht der Weltgeschichte für die Sowjets gewann, trieb die deutschen, zunehmend verteidigungsunfähigen, zerfallenden Armeen über Warschau bis vor die Weichsel. 

Seine „Weichsel-Oder-Operation“ begann am 12. Januar 1945 mit einer 1200 Kilometer breiten Front zwischen der Ostsee und den Karpaten, mit der Stoßrichtung über Warschau – Bromberg – Posen nach Küstrin. Jetzt war das Schicksal der Weichsel-Fordon-Brücke besiegelt. Sie wurde sinnlos von der deutschen Wehrmacht gesprengt, was die Rote Ar-mee nicht aufhalten konnte. Im Gegenteil, als Marschall Schukow die zerstörte Brücke sah, soll er gesagt haben (historisch nicht sicher belegt!): „Kein Problem, die Brücke wäre für unsere Panzer und Artillerie ein Nadelöhr gewesen. Wir fahren über die mit einer vier bis fünf Meter  Eisschicht zugefrorene Weichsel nach Berlin.“ 

Der Weg der Roten Armee über die „Festung Schneidemühl“ bis zur verlustreichen Schlacht – für beide Seiten – auf den Seelower Höhen am 16. April 1945 und bis zur Kapitulation der Verteidiger Ber-lins am 2. Mai 1945 soll nicht weiter beleuchtet werden. Rotarmisten hissten am 2. Mai, zwei Tage nach dem Selbstmord Adolf Hitlers, die Sowjet-Fahne auf dem Reichstag. 

Rote Armee in Schneidemühl

Im Westen verhandelten die Generäle Montgomery und Eisenhower mit der Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz (seit 1. Mai amtierend) und Generaloberst Alfred Jodel die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Truppen im Westen und Osten. Nur danach wurden die deutschen Soldaten als Kriegsgefangene anerkannt. Zu den „Glücklichen“ zählte auch mein Vater am Ende seines Weges von der Ostfront vor Moskau. Andern-falls, so erklärte General Eisenhower aus seiner Stärke als Sieger an der Westfront, würden alle Soldaten als Feinde erschossen. So wurde die Kapitulation schon am 4. Mai 1945 unterzeichnet. 

Die Rote Armee und Marschall Schukow bestanden auf einer Wiederholung der bedingungslosen Teilkapitulation auch an der Ostfront. Im sowjetischen Hauptquartier, welches sich in der militärtechnischen Schule Berlin-Karlshorst befand, wurde dann in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 die Kapitulation vom General Wilhelm Keitel, und dem Marschall Georgij Schukow unterzeichnet. 

Die „Fordonski bridge“ wurde schöner denn je wiederaufgebaut und als „Rudolfa-Modrzejewskiego-Brücke“ für den Verkehr zwischen Bromberg [Bydgoszcz] und Thorn [Torun] sowie weiter südöstlich nach Warschau sehr bedeutend. 

Reise in die Heimat

Am 9. Juni 2021 fuhren Elisabeth und ich mit meinem Opel Mokka – in der Republik Polen ist sie immer die Fahrerin – von ihrer Villa in Zielonka nach Thorn. Das alte deutsche Thorn, besonders die historische Innenstadt mit einem Blick auf die Weichsel, wurde von der Roten Armee, von Marschall Schukow, nicht zerstört. Bromberg und Schneidemühl sowie viele andere Städte und Dörfer auf dem Weg nach Berlin wurden größtmöglich zerstört und die Bevölkerung musste schwere Zeiten bis zum Wiederaufbau durchstehen. In der Gegend von Fordon, heute einverleibt in die Großstadt Bromberg mit ihren über eine halbe Million Einwohnern, denkt Weisenberger an ihren Sohn Robert Wiesniewski. Er lebt dort mit seiner Familie und ihrem über alles geliebten zwölfjährigen Enkel Filip auf einem sehr großen Anwesen. Erst vor wenigen Tagen wurde der Sohn als bester Jungunternehmer Polens ausgezeichnet. 

Nach solchen Freudentagen führt dann die gemeinsame Rückfahrt über Berlin-Lichterfelde, wo auf dem Friedhof Thuner Platz meine nach einer Herz-Operation am 27. November 2005 verstorbene Tochter Sabine ruht. 

Dann weiter nach Stendal mit der Zwischenstation „Hotel Schwarzer Adler“ und Besuch des Familiengrabes meiner Eltern, meiner Frau Doralies sowie deren Eltern. Ihr Vater wurde im Dezember 1944 als Soldat im Lazarett von Thorn liegend von einem jungen SS-Arzt KV = „kriegsverwendungsfähig“ in die Kämpfe um Danzig geschickt. Vermisst, tot? Er hat Frau, Tochter, Familie und die Heimat nie wiedergesehen. Erde von dem nahegelegenen Bauernhof in Borstel, wo er geboren wurde, liegt nun in seiner „Gedächtnisurne“. 

Besuch der Familiengräber

Zu Hause in Wettenberg, wo Elisabeth seit 20 Jahren kranke Senioren als Krankenschwester pflegt und als Haushälterin betreut. 

Schon am 17. Juni 1953, als ich von der Berliner Stalinallee an der Demonstration der Arbeiter teilnahm, wurde ich von den russischen Panzern über den Potsdamer Platz nach West-Berlin getrieben. Ich hätte nie gedacht, dass mich im 88. Lebensjahr die Rote Armee wieder einholt. Nun ist sie seit ihrem Angriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine nähergerückt. Den Überfall und den „Putin-Krieg“ verachte ich. So vertraue ich auf meine Worte „Der Frieden wird den Krieg besiegen.“ 

Als ich als 17-Jähriger bei der mündlichen Abiturprüfung am Stendaler Winckelmann-Gymnasium am 9. Juni 1952 vor die Prüfungskommission im Fach „Russisch“ gebeten wurde, habe ich in einem längeren frei gesprochenen Referat auf Russisch zum Thema: „Frieden und Krieg“ gesprochen. Meiner ukrainischen Russisch-Lehrerin, Elisabeth Reck, unserer von der Klasse 12 B geliebten „Elli“, habe ich damit wohl ihre Festanstellung gesichert. Sie hat es mir bei einem von den DDR-Behörden, der Stasi, genehmigten Besuch meiner Eltern aus Lübeck im Oktober 1972 in Stendal berichtet. 

Die Erhaltung des Friedens ist auch für mich als Schneidemühler das Wichtigste, damit wir die Versöhnungsarbeit mit den heute in Schneidemühl [Piła] lebenden Polen fortführen können. 

Putin weckt ungute Erinnerungen

Dies wünsche ich mir auch für die Ukraine und ihren tapferen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Dieser lässt nun als Oberbefehlshaber die eigenen Brücken in der Ukraine sprengen, um die Rote Armee, die „Putin-Angreifer“, aufzuhalten beziehungsweise ihren Vormarsch in die Hauptstadt Kiew zu verzögern. 

Die Millionen Flüchtlinge erinnern mich schmerzhaft an meine eigene Flucht im bitterkalten Winter 1945. So wiederholt sich die Geschichte mit gesprengten Brücken, zerstörten Städten und traumatisierten Bewohnern auf der Flucht. war