28.03.2024

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Folge 19-22 vom 13. Mai 2022 / Szenarien am Rande des Abgrunds / Die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg bewegt nicht nur in Deutschland die Gemüter. Wichtiger als die Sorgen der Europäer ist jedoch das Verhalten der US-Amerikaner

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-22 vom 13. Mai 2022

Szenarien am Rande des Abgrunds
Die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg bewegt nicht nur in Deutschland die Gemüter. Wichtiger als die Sorgen der Europäer ist jedoch das Verhalten der US-Amerikaner
Harald Kujat

Vor einigen Tagen berichteten deutsche Medien, dass russische Streitkräfte nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums in der Oblast Kaliningrad, dem Gebiet um die frühere ostpreußische Hauptstadt Königsberg, Angriffe mit nuklearfähigen Iskander-Raketen simuliert hätten. Es soll sich um einen „elektronischen Start“ auf ein imaginäres militärisches Ziel sowie um die Reaktion auf einen nuklearen Angriff gehandelt haben. 

Die Oblast Kaliningrad, das am weitesten westlich gelegene Staatsgebiet der Russländischen Föderation, ist eine strategische Schlüsselregion zwischen den NATO-Staaten Litauen und Polen. In dieser Region sind hochmobile Raketensysteme des Typs Iskander (NATO-Bezeichnung: SS-26) disloziert. Iskander ist ein ballistisches Kurzstreckensystem mit einer Reichweite bis zu 500 Kilometern, das mit konventionellen und nuklearen Gefechtsköpfen eingesetzt werden kann. Das System ist sehr zielgenau und kann durch den Einsatz von Täuschkörpern gegnerische Abwehrsysteme durchdringen. Es können auch Marschflugköpper gestartet werden.

Atomares Säbelrasseln in Russland, aufgeladene Debatten in Deutschland

Die Nachricht des russischen Verteidigungsministeriums soll offensichtlich eine weitere Warnung sein, dass der Einsatz von Nuklearwaffen für die russischen Regierung eine realistische Option im Krieg um die Ukraine ist. Ob es tatsächlich eine ernstzunehmende Drohung ist, wird in den deutschen Medien kontrovers diskutiert. Anlass dazu sind zwei offene Briefe an den Bundeskanzler im Zusammenhang mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages, „schwere Waffen“ – was immer darunter verstanden wird – an die Ukraine zu liefern. 

Im Kern geht es darum, ob man in einem eindimensionalen Ansatz die Ukraine mit Waffenlieferungen in die Lage versetzt, einen militärischen Sieg zu erringen (zu den Kriegszielen zählt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Botschaft zum 9. Mai auch die Rückeroberung der Krim), und das Risiko der Ausweitung des Krieges auf ganz Europa und möglicherweise eine nukleare Eskalation in Kauf nimmt oder in einem dualen Ansatz die Ukraine zwar bei der Verteidigung ihres Landes unterstützt und zugleich das Risiko eines großen europäischen Krieges und möglicherweise einer nuklearen Eskalation durch einen Verhandlungsfrieden verhindert. Im Clausewitzschen Sinne ist das die Frage, ob die Politik in einem Krieg der Logik der Gewalt weicht und der Krieg die Politik ersetzt – oder ob die Politik fortgesetzt und der Krieg mit den Mitteln der Politik beendet wird.

Abschrecken oder innehalten

Die Gegner von Waffenlieferungen sind überzeugt, dass damit eine Grenzlinie zu einem Gebot der politischen Ethik erreicht wird: „… das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.“ Sie bezweifeln, dass es moralisch verantwortbar ist, durch diese Entscheidung weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verursachen. 

Die Kritiker dieser Position fragen: „Muss man nachgeben, weil Putin mit dem Atomkrieg droht? Faktisch hieße dies doch, dass man tatenlos zusieht, wie ein souveränes Land seiner Freiheit beraubt wird und die Menschen dort einem totalitären Zwangsregime ausgeliefert werden.“ 

Dies wäre eine vernünftige Antwort auf eine leere Drohung. Die russische Regierung verfügt jedoch über eine große Bandbreite nuklearer Optionen. Und niemand weiß, ob und unter welchen Bedingungen sie Nuklearwaffen einsetzen würde. Jedenfalls sieht die russische Nuklearstrategie den Einsatz von Nuklearwaffen für den Fall einer existenziellen Bedrohung Russlands vor. Russland betrachtet die Krim als russisches Staatsgebiet. Sollte der Westen die Ukraine so stark machen, dass sie den Versuch wagen könnte, die Krim zu erobern, wäre aus russischer Sicht sicherlich eine rote Linie überschritten.

Die Bedeutung der USA und die Interessen der Europäer

Die Befürworter von Waffenlieferungen sagen wiederum: „Die Drohung mit dem Atomkrieg ist Teil der psychologischen Kriegführung Russlands.“ Sie wollen die Drohung jedoch nicht auf die leichte Schulter nehmen und fordern: „Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden.“ Zu den zu berücksichtigenden Aspekten gehört auch, dass lediglich die Vereinigten Staaten die Fähigkeit besitzen, Russland vom Einsatz nuklearer Waffensysteme abzuschrecken. Abschreckung ist jedoch nur dann wirksam, wenn zu der Fähigkeit auch glaubwürdig der Wille kommt, nach einem nuklearen Ersteinsatz einen nuklearen Gegenangriff zu führen. 

Das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und Russland ist stabil, weil es auf der gesicherten Zweitschlagsfähigkeit beruht. Das bedeutet, dass der Angegriffene auch nach einem Nuklearangriff noch in der Lage ist, dem Angreifer einen vernichtenden Gegenschlag zuzufügen. Das nuklearstrategische Gleichgewicht wird durch überlebensfähige Offensivsysteme (Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und nukleare U-Boote), defensive ballistische Raketenabwehrsysteme und stabilisierende Rüstungskontrollvereinbarungen gesichert. 

Die sorgsam abgesicherte strategische Stabilität zwischen den beiden Großmächten bedeutet jedoch nicht, dass damit das Risiko eines auf Europa begrenzten Nuklearkrieges ausgeschaltet wäre. Im Gegenteil: Sollte die russische Führung der Auffassung sein, dass ein Einsatz nuklearer Kurzstreckenraketen keinen nuklearen Gegenangriff der Vereinigten Staaten auslöst, wäre das Risiko eines nuklearen Ersteinsatzes für Russland kalkulierbar. Offensichtlich ist dies der Fall. Denn der ehemalige Präsidentenberater Jelzins und Putins, Sergej Karaganow, erklärte kürzlich: „Ich weiß auch aus der Geschichte der amerikanischen Nuklearstrategie, dass die Vereinigten Staaten Europa wahrscheinlich nicht mit Nuklearwaffen verteidigen werden.“

Die Ukraine verteidigen – oder Russland besiegen?

Die Ausführungen des für den Einsatz amerikanischer Nuklearstreitkräfte verantwortlichen Befehlshabers des US-Strategic Command, Admiral Charles Richard, vor wenigen Tagen im Senatsausschuss für strategische Waffensysteme, scheinen das zu bestätigen: „Wir stehen derzeit vor einer Krise der Abschreckungsdynamik, die wir in der Geschichte unserer Nation nur wenige Male gesehen haben. Der Krieg in der Ukraine ... zeigt, dass wir eine Abschreckungs- und Sicherheitslücke haben, die auf der Androhung eines begrenzten Atomeinsatzes beruht.“ Wir sind möglicherweise einer Situation wie in der Kubakrise näher als viele das für möglich halten. Mit dem Unterschied, dass das Epizentrum nicht in der Karibik, sondern in Europa läge. Es liegt also essenziell im europäischen Interesse, eine Entwicklung des Ukrainekrieges zu verhindern, die uns dieser Gefahr aussetzt. 

Immer häufiger betonen westliche Politiker unterdessen, dass die Waffenlieferungen „nicht nur der Verteidigung der Ukraine, sondern auch dem ukrainischen Sieg über Russland“ dienen sollen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte sogar kürzlich, dass die Vereinigten Staaten „Russland so weit geschwächt sehen wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“. Das ist eine bedeutsame Änderung des Schwerpunktes der amerikanischen Strategie im Ukrainekrieg. „Center of Gravity“ ist nicht mehr, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, sondern Russland als geopolitischen Rivalen zu schwächen. 

Keine Alternative zu Verhandlungen

Der bisherige Verlauf des Krieges zeigt jedoch, dass es in diesem Konflikt keinen militärischen Sieger geben wird. Die rationale Konsequenz ist deshalb nicht die Verlängerung des Krieges, indem die strategischen Ziele weiter gesteckt werden, sondern seine Beendigung durch einen Verhandlungsfrieden. Der Appell, einen Verhandlungsfrieden anzustreben, ist auch keine Aufforderung zur Kapitulation der Ukraine. Er richtet sich nicht einmal an die Ukraine. 

Denn die Strategieänderung der Vereinigten Staaten – wenn es denn eine war – zeigt, dass die Hauptakteure in diesem Krieg nicht die Ukraine und Russland, sondern die Vereinigten Staaten und Russland sind. Seit Beginn des Krieges hat es zwischen den beiden Großmächten keine Verhandlungen gegeben. Der Krieg ist an die Stelle der Diplomatie getreten. Es ist Aufgabe der Politik und ein Gebot der Vernunft, das Leiden der Ukrainer und die Zerstörung des Landes zu beenden und das Entgleiten des Krieges in eine europäische Katastrophe zu verhindern.






General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.