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Folge 19-22 vom 13. Mai 2022 / Leitartikel / Wege aus dem Wahnsinn

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-22 vom 13. Mai 2022

Leitartikel
Wege aus dem Wahnsinn
René Nehring

Seit Montag rätselt die Welt, wie die russischen Feiern zum „Tag des Sieges“ zu deuten sind: Waren in den Tagen zuvor alle denkbaren Eskalationsschritte seitens des russischen Präsidenten Putin erwartet worden, verlief der 9. Mai 2022 auffallend nüchtern: Weder erklärte Putin – wie zum Teil befürchtet – der Ukraine formell den Krieg noch verkündete er eine Generalmobilmachung seiner Streitkräfte. 

Besonders auffallend war, dass der russische Präsident mehr als zehn Wochen nach dem Angriff auf die Ukraine seinem Volk keinerlei Trophäe präsentieren konnte: weder den Sturz des Regimes in Kiew noch die Eroberung des Donbass, ja noch nicht einmal die vollständige Einnahme des seit Monaten in Schutt und Asche gelegten Mariupol. Stattdessen vermeldeten die Ukrainer auch noch, dass sie die Russen bei Charkiw zurückgedrängt hätten. 

Angesichts der Tatsache, dass Putin in den vergangenen Jahren sich und die vermeintlichen Erfolge seiner Politik gern zur Schau gestellt hat, und angesichts der starken Worte, die der Präsident bei Ausbruch des Krieges gebrauchte, lässt sein Auftreten am 9. Mai durchaus den Schluss eines stillen Eingeständnisses zu, dass er selbst mit dem bisherigen Verlauf der von ihm ausgerufenen „militärischen Spezialoperation“ nicht zufrieden ist. 

Bei aller Solidarität mit der angegriffenen Ukraine – ein Grund zum vorbehaltlosen Jubeln ist dieser Befund freilich nicht. Im Gegenteil: Was Russland von anderen Militärmächten unterscheidet, die ihre Ziele auf dem Schlachtfeld nicht erreicht haben, ist sein Status als Atommacht. Egal, wie viele Soldaten, Panzer, und Schiffe das Land in der Ukraine verlieren mag, und egal, ob es den Ukrainern gelingen mag, die Russen aus ihrem Land zu drängen – am Ende haben die Russen noch immer die Möglichkeit zu einem atomaren Erst- oder Zweitschlag, mit dem sie Europa in den Abgrund ziehen könnten. 

Die Weisheit eines alten Mannes

So paradox es klingen mag: Die Frage ist also, ob und wie es gelingen kann, den Angriff auf die Ukraine mit aller Kraft zurückzudrängen und den Russen zugleich die Möglichkeit zu geben, sich gesichtswahrend vom Schlachtfeld zurückzuziehen. 

Hier sind vor allem die US-Amerikaner gefragt, die es mit ihrer auf vielen Ebenen geleisteten Unterstützung für die Ukraine überhaupt erst ermöglicht haben, dass die Ukrainer den Russen widerstehen konnten. Auch wenn das Bestreben in Washington groß sein mag, dem jahrzehntelangen Gegner im Kalten Krieg nicht nur in der Ukraine eine Niederlage beizubringen, sondern Russland – wie es unlängst US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte – so weit zu schwächen, „dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“:  Klug und zielführend ist das nicht. Vielmehr liegt in diesem Anspruch schon jetzt der Nährboden für künftige Konflikte. 

Die US-amerikanische Russland-Expertin Angela Stent, die als CIA-Analystin in den vergangenen Jahren etliche lange persönliche Gespräche mit Putin führen konnte, nannte bei Ausbruch des Krieges auf die Frage, welchem Politiker im Westen sie überhaupt noch zutraue, Einfluss auf Putin zu nehmen, sofort Henry Kissinger. Für den greisen ehemaligen Chef-

diplomaten habe Putin stets eine hohe Verehrung empfunden. Und Kissinger wiederum habe im Laufe der Jahre häufig für eine ausgewogene Machtbalance zwischen den USA und Russland plädiert. 

Mit Blick auf die Ukraine hatte Kissinger sowohl den Westen als auch die Russen dazu gemahnt, auf eine Eingliederung des zweitgrößten Landes Europas zu verzichten. Kiew wiederum warnte er davor, sich einer Seite zuzuschlagen. Stattdessen empfahl er dem Land, sich als Brücke zwischen Ost und West zu entwickeln. 

Vielleicht können diese Gedanken nach einem Zurückdrängen der Russen bei der Suche nach einer langfristigen Lösung für die Ukraine hilfreich sein. Ein Bestehen auf einen totalen Sieg jedenfalls wird niemandem nützen, sondern allenfalls in einer Katastrophe enden, die noch größer ist als der bisherige Kriegsverlauf.