29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 20-22 vom 20. Mai 2022 / Embargo Die Folgen des Versuchs, Deutschland und Europa von billigem russischen Gas abzuschneiden, sind vielfältig. Eine größere Erpressbarkeit durch Algerien und Katar sind noch nicht einmal die schlimmsten / „Wem schadet es wirklich?“ / Deutschland könnte Hauptleidtragender werden, die Vereinigten Staaten Profiteur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-22 vom 20. Mai 2022

Embargo Die Folgen des Versuchs, Deutschland und Europa von billigem russischen Gas abzuschneiden, sind vielfältig. Eine größere Erpressbarkeit durch Algerien und Katar sind noch nicht einmal die schlimmsten
„Wem schadet es wirklich?“
Deutschland könnte Hauptleidtragender werden, die Vereinigten Staaten Profiteur
Wolfgang Kaufmann

Die Rufe nach weiteren Wirtschaftssanktionen des Westens im Allgemeinen und der EU im Besonderen gegenüber Russland einschließlich eines Energieembargos werden immer lauter. Ebenso könnte Russland seinerseits die Lieferung von Gas und Öl Richtung Westen einstellen. Beides hätte unabsehbare Folgen für die deutsche Wirtschaft. Dieses geht aus Warnungen von Experten hervor, von denen einige bei der letzten öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Klimaschutz und Energie des Deutschen Bundestages zu Wort kamen. Vor allem die Konsequenzen des Ausbleibens von russischem Gas wären wohl verheerend, denn für dieses gibt es keinen kurzfristig verfügbaren Ersatz.

Nach Ansicht des Makroökonomen Tom Krebs von der Universität Mannheim droht bei einem sofortigen Ende der Gaslieferungen ein Rückgang der Industrieproduktion hierzulande um 114 bis 286 Milliarden Euro. Damit würde das Bruttoinlandsprodukt um bis zu zwölf Prozent schrumpfen. Ganz ähnlich sieht dies der Düsseldorfer Volkswirtschaftler Jens Südekum, der im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sitzt. 

Kaskaden- oder Zweitrundeneffekte

Unklar ist, in welchem Ausmaß es zu sogenannten Kaskaden- oder Zweitrundeneffekten käme. Die träfen jene Firmen, die zwar nicht direkt auf Erdgas angewiesen sind, aber auf unter Verwendung von Gas hergestellte Vorprodukte. In diesem Zusammenhang wies der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, auf die zentrale wirtschaftliche Bedeutung der Chemieunternehmen hin. Sollten die wegen Energiemangels ihre Produktion reduzieren oder einstellen müssen, dann würde das gravierende Auswirkungen auf die Bereiche Landwirtschaft und Ernährung sowie die Automobil- und Baubranche haben.

Ähnliche wirtschaftliche Folgen wären zu erwarten, wenn die gleichfalls sehr energieintensive Stahlindustrie ohne Gas dastünde. Und Glasherstellern würde beim Ausbleiben der Gaslieferungen gar der Totalschaden drohen, weil deren Produktionsanlagen durch das Herunterfahren unbrauchbar werden könnten, so der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Glasindustrie, Johann Overath. 

Produktionsverlagerungen geplant

Angesichts dieser Gefahren planen einige Unternehmen nun, ihre Produktion in die USA zu verlagern, wo die Energieversorgung auch zukünftig gewährleistet zu sein scheint. Das betrifft beispielsweise die Alzchem Group AG mit Sitz im oberbayerischen Trostberg, die Vorprodukte für Spezialdünger und Pharmazeutika sowie auch spezielle Gase herstellt, die in den Airbags von Kraftfahrtzeugen zum Einsatz kommen.

Aufgrund all dessen rechnen Fachleute wie der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln (IW), Michael Hüther, bei einem alsbaldigen Gasstopp mit dem Wegfall von bis zu drei Millionen Arbeitsplätzen. Dann gäbe es in Deutschland mehr als fünf Millionen Menschen ohne Job, so viele wie in der Weimarer Republik auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. 

Das veranlasste Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland zu der Warnung: „Wir werden sehr viel mehr Arme bekommen, als wir bisher gedacht haben.“ Und der Leiter der Abteilung Struktur-, Industrie- und Dienstleistungspolitik im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Frederik Moch, befürchtet deswegen eine Destabilisierung der Demokratie. 

Gefährdung durch Stromausfälle

Zu weiteren Gefährdungen des Gemeinwesens könnte es bei einer noch stärkeren Zunahme der Inflation durch den beschleunigten wirtschaftlichen Niedergang infolge von Gasembargos oder -lieferstopps kommen. Außerdem wären längere Unterbrechungen der Stromversorgung infolge fehlender Energielieferungen aus Russland möglich. Dann stünden „wir … mit einem Bein im Blackout-Szenario“, konstatierte unlängst die Senior-Volkswirtin der Allianz, Katharina Utermöhl. Ein Stromausfall würde wahrscheinlich innerhalb von 24 Stunden zum Zusammenbruch des gesamten öffentlichen Lebens und der Versorgung mit unverzichtbaren Gütern führen. Das legte der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft im Januar in seiner detaillierten Studie „Blackout: Vom drohenden Kollaps der Gesellschaft“ dar.

Insofern liegen Politiker wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wohl durchaus richtig, wenn sie mit Blick auf das mittlerweile sechste EU-Sanktionspaket, das zwar noch keinen Gas-, aber zumindest schon einen Öl-Boykott vorsieht, die Frage stellen: „Wem schadet es wirklich?“