16.04.2024

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Folge 20-22 vom 20. Mai 2022 / Kolumne / Sachliche Unredlichkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-22 vom 20. Mai 2022

Kolumne
Sachliche Unredlichkeit
Florian Stumfall

Russlands Krieg in der Ukraine gibt reichlich Anlass zu erwägen, welches Unrecht dadurch dem kleinen Nachbarn angetan wird. Von allem menschlichen Leid abgesehen, der skandalösen Wunde eines jeden Krieges, tritt in den Vordergrund, welche Rechtsverletzungen hier zu beklagen sind. An erster Stelle verweisen Politiker, Medienleute und die stets gegenwärtigen „Beobachter“ auf die Verletzung der Souveränität, den Verstoß der Unverletzlichkeit von Grenzen und die Missachtung der staatlichen Integrität. Diese drei treffen zusammen den Kern der nationalen Sub­s-tanz eines Landes, und in die Klage, welche die Ukraine darüber führt, stimmen alle westlichen Länder ein.

Soweit also herrscht weithin Einigkeit in der nicht nur wohlwollenden, sondern unabdingbaren und jede Unterstützung rechtfertigenden Parteinahme für die 

ukrainische Nation. Allerdings darf der Hinweis nicht ausbleiben, dass es die Länder Europas, jedenfalls soweit sie der EU angehören, mit dem Wert des nationalen Gedankens, soweit es sie selbst betrifft, ganz anders halten.

Diese haben sich dem Vertrag von Lissabon verpflichtet. Dessen Artikel I bestimmt, der Vertrag stelle „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar …“ Befremdlich zunächst, dass hier auf die „Völker Europas“ abgestellt wird, eben jene Völker, die zu ihrer Meinung über die EU und die weitere Entwicklung gar nicht gefragt werden. Was in kleinen Zirkeln zur Zukunft von rund 500 Millionen Menschen beschlossen wird, nennen die EU-Wortführer dann vor der Öffentlichkeit die „weitere Vertiefung der Gemeinschaft“. Unerwähnt bleibt dabei, dass jede Vertiefung der EU mit einer Verflachung der nationalen Staaten einhergeht, das heißt, dass von diesen immer mehr Zuständigkeiten, also Machtbefugnisse, an Brüssel abgegeben werden.

Souveränität für die Ukraine

Das bedeutet, die Souveränität der EU-Mitgliedsländer, deren Grenzen, deren staatliche Integrität, eben jene Rechtsgüter, für die man sich in der Ukraine ins Mittel legt, bis hin zur Lieferung von Waffen, verlieren immer mehr an Bedeutung. Natürlich geschieht das, soweit es die EU angeht, ohne Gewalt, aber wenn jene Rechtsgüter von so hohem Rang sind, wie am Beispiel der bedrohten Ukraine beschrieben, dann muss ihre Erhaltung unter allen Umständen schützenswert sein, ob mit Gewalt oder ohne.

In der EU ist das Gegenteil der Fall. Nimmt man die beiden Mitgliedsländer Ungarn und Polen als Beispiele, so sieht man, dass jeder Hinweis auf nationales Recht und nationale Würde von Brüssel verdammt und mit Androhungen schwerster Sanktionen quittiert wird. Dabei gilt für die Regierungen dieser beiden Länder, was für alle anderen in der EU ebenso zutrifft: Alle verantwortlichen Politiker haben ihren Amtseid auf ihr jeweiliges Land, dessen Bevölkerung und deren Wohlfahrt abgelegt. Keiner hat auf die EU geschworen, und keinem ist durch den Souverän das Recht verliehen worden, den Staat allmählich zugunsten eines supranationalen Gebildes langsam aufzulösen.

Zur Rechtfertigung verweisen die Propheten eines den ganzen Kontinent umspannenden Zentralismus auf den Gegensatz zwischen der eigenen Position und dem angeblich im Absterben begriffenen Nationalismus. Spätestens hier aber beginnt die sachliche Unredlichkeit. Denn es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen dem nationalen Gedanken und dem Nationalismus, der ebenso groß ist wie etwa derjenige zwischen „sozial“ und „sozialistisch“.

Der nationale Gedanke entspringt dem geschichtlichen Werdegang eines Volkes und ist von diesem sowie den grundlegenden Faktoren wie Sprache, Kultur, Tradition, Siedlungsgebiet und Bekenntnis gekennzeichnet. Der nationale Gedanke hält an der Würde spezifischer immaterieller Werte fest und empfiehlt ihre Verteidigung. Im Prinzip richtet er sich nach innen und ist auf Bestand ausgerichtet.

Der Nationalismus dagegen stellt weitgehend das Gegenteil dar. Er ist jedenfalls in Teilen nach außen gerichtet und das im Sinne eines aggressiv verstandenen Vergleichs. Er ist nicht auf Bestand ausgerichtet, sondern auf Veränderung zum eigenen Vorteil und zulasten anderer. Er versteht seine Werte nicht als spezifisch, sondern als allgemeingültig und setzt daher das Fremde herab.

„Vertiefung der Gemeinschaft“

So sieht sich der nationale Gedanke von zwei verschiedenen Seiten bedroht. Zum einen ist es der Internationalismus, zum anderen der Nationalismus. Dabei ist der Unterschied zwischen diesen beiden erstaunlich gering. Denn die Eigenschaften, die der Nationalismus in der Größenordnung eines Staates aufweist, zeigt der Internationalismus in der entsprechend höheren Dimension.

Auf die EU angewandt bedeutet das: Auch sie setzt herab, was nicht ihrer Art ist. Auch sie setzt nicht auf Bestand, sondern auf Ausdehnung. Auch sie sucht die Veränderung zum eigenen Vorteil. Und auch sie lässt neben ihren so bezeichneten Werten keine anderen gelten. 

Die Entwicklung in der Ukraine wird zeigen, inwieweit Brüssel bereit ist, auf Gewalt zu verzichten und bei seinem bewährten Mittel der Nötigung zu bleiben. Ansonsten stellt die EU die Verschmelzung der internationalistischen Ideologie mit der nationalistischen Praxis dar. Die Extreme berühren sich gegenseitig. Sie können das, weil sie nie weit voneinander entfernt sind.

Wer immer den nationalen Gedanken, das natürlichste Leitbild für ein Zusammenleben in einem größeren Gefüge als Familie und Stamm, wer also diesen Gedanken ächten, auflösen, unwirksam machen will, der hat die Wahl zwischen zwei anderen, von Ideologie geprägten Möglichkeiten. Der Nationalismus schadet dem nationalen Gedanken dadurch, dass er ihn ins perverse Gegenteil übersteigert. Doch auch der Internationalismus betreibt dadurch eine solche Übersteigerung, dass er ohne Rücksicht auf Kultur, Geschichte, Sprache und Tradition einen übergreifenden Anspruch erhebt, der nur erfüllt werden kann, wenn die ganzen Zwangsmittel einer totalitären, zumindest aber autoritären Ordnung ergriffen werden. Welche Vorsicht hier geboten ist, kann man daran ermessen, dass zu keinem der beiden Ziele ein demokratischer Weg führt.

Der Autor ist ein christsoziales Urgestein und war lange Zeit Redakteur beim „Bayernkurier“.