20.04.2024

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Folge 21-22 vom 27. Mai 2022 / Analyse / Türkei contra NATO

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-22 vom 27. Mai 2022

Analyse
Türkei contra NATO
Norman Hanert

„Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO“. Gut drei Jahre nach diesem Befund des französischen Präsidenten Emmanuel Macron lebt das transatlantische Verteidigungsbündnis noch immer. Es ist sogar so attraktiv, dass Finnland und Schweden am 16. Mai offiziell einen Beitrittsantrag gestellt haben. Ob beide Länder tatsächlich in absehbarer Zeit Mitglieder des Nordatlantikpakts werden, ist aber keineswegs sicher. Der Gründungsvertrag der NATO macht die Aufnahme neuer Mitglieder von einem einstimmigen Beschluss aller Vertragsparteien abhängig.

Zwei Mitglieder des Nordatlantikpakts haben ihre Zustimmung von der Erfüllung von Forderungen abhängig gemacht. Kroatiens Staatspräsident Zoran Milanović fordert eine vorherige Änderung des Wahlgesetzes im benachbarten Bosnien-Herzegowina und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vorherige Kooperation der beiden skandinavischen Kandidaten mit ihm in dem, was er „Kampf gegen den Terrorismus“ nennt. Es sei „inkonsequent“, so der Türke, dass Schweden und Finnland versuchten, der NATO beizutreten, wenn sie „Terroristen“ der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) unterstützten.

Türkische Forderungen

Allerdings erklärte Erdoğans Berater Ibrahim Kalin, die Türkei habe die Türen für die Mitgliedschaft der Skandinavier nicht generell zugeschlagen. Ankaras Kalkulation scheint aufzugehen. Nach einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten twitterte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die Sicherheitsbedenken aller Verbündeten müssten berücksichtigt und weiter diskutiert werden, um eine Lösung zu finden.

Erdoğans Wunschliste scheint indessen noch mehr zu umfassen als ein härteres Vorgehen gegen Kurdengruppen im Ausland. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu wies nämlich bereits mehrmals auf Mitglieder des Nordatlantikpakts hin, die Exportbeschränkungen für Rüstungsgüter an die Türkei verhängt haben. Nach dem Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien 2019 etwa kündigten Finnland, Schweden, Deutschland und andere EU-Länder an, vorerst keine Waffen mehr in die Türkei exportieren zu wollen. Seit sich das NATO-Mitglied Türkei für den Kauf des russischen 

S-400-Raketenabwehrsystems entschieden hat, liegt auch die Lieferung von US-amerikanischen Kampfjets des Typs Lockheed Martin F-35 „Lightning II“ an die Türkei auf Eis.

Mobbing statt Rauswurf?

Die Durchsetzung türkischer Interessen auf internationaler Bühne, die Erdoğan derzeit in aller Öffentlichkeit vorführt, hat eine jahrzehntelange Tradition. Die türkische Invasion Zyperns im Juli 1974 blieb für Ankara ebenso ohne einschneidende Konsequenzen wie die immer wieder auftauchenden Berichte über Folter in der Türkei, etwa nach dem Militärputsch von 1980. 

Möglicherweise hat Erdoğan die türkische Sonderrolle innerhalb des Nordatlantikpakts aber nun so weit überreizt, dass selbst die Geduld der westlichen Führungsmacht USA am Ende ist. In einem bemerkenswerten Gastbeitrag für den US-Sender CNN hat David Andelman den Rauswurf der Türkei aus der NATO zum Thema gemacht. Dabei bezeichnete das Mitglied der einflussreichen Denkfabrik „Council on Foreign Relations“ den türkischen Präsidenten und Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán als „nützliche Freunde“ Putins, die einen Keil in die Linie des westlichen Bündnisses treiben. 

Die Diskussion um einen Rauswurf der Türkei aus der NATO muss derzeit allerdings als reines Gedankenexperiment angesehen werden. Der Nordatlantikvertrag sieht nämlich den Ausschluss eines Mitgliedstaats nicht vor. Die Möglichkeit, dass ein NATO-Mitglied den Verbleib der Türkei im Militärbündnis beispielsweise von einem Verbot der extremistischen „Grauen Wölfe“ oder von einem Abzug türkischer Truppen aus Syrien oder Nordzypern abhängig macht, besteht damit nicht.

Als gangbaren Weg schlug Andelman in seinem CNN-Beitrag ein Herausdrängen der beiden Länder vor. Nach Ansicht Andelmans sollte Ungarn innerhalb der Europäischen Union und die Türkei im Nordatlantikpakt solange ignoriert werden, bis schließlich eine diplomatische Krise zu einem kompletten Rückzug der beiden Länder aus EU und NATO führt.