19.04.2024

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Folge 22-22 vom 03. Juni 2022 / Polenjahrbuch / Wie sich in Polen allmählich eine Mittelschicht bildet / 17 Autoren setzen sich mit der gegenwärtigen Entwicklung in unserem Nachbarland auseinander und decken Widersprüche auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-22 vom 03. Juni 2022

Polenjahrbuch
Wie sich in Polen allmählich eine Mittelschicht bildet
17 Autoren setzen sich mit der gegenwärtigen Entwicklung in unserem Nachbarland auseinander und decken Widersprüche auf
Karlheinz Lau

Seit 2006 wird das Jahrbuch Polen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten herausgegeben. Der diesjährige Schwerpunkt bezieht sich auf das Land Polen, und zwar in allen denkbaren Lebensbereichen, in denen Menschen wirken. Das versuchen 17 Autoren, unter ihnen der deutsche Journalist Reinhold Vetter, jeweils aus ihrer Sicht und Erfahrung zu beschreiben. Es sind Hochschullehrer, Soziologen, Journalisten, Kunsthistoriker, Slawisten und Philosophen. Die Autoren stammen ausschließlich aus dem universitären Milieu, nicht aber aus den Bereichen Landwirtschaft, Handwerk oder Industrie. Fachleute aus diesen Bereichen hätten mit Sicherheit wichtige zusätzliche Aspekte eingebracht. 

Betrachtungen aus dem Nicht-universitären Milieu fehlen

Der deutsche Bürger, soweit er sich überhaupt für Polen interessiert, hat häufig die Vorstellung von einer Zweiteilung der polnischen Gesellschaft: die große Masse der Landbevölkerung mit erheblichen Defiziten in der regionalen Infrastruktur und die städtische Bevölkerung in den Ballungszentren Warschau, Danzig oder Krakau und Breslau; hier sind die Chancen für den Einzelnen ungleich größer und breiter, was zu einer Landflucht auch in der Republik Polen führt. 

Politisch ist das Land Domäne der National-Konservativen Partei des Jaroslaw Kaczynski (PIS), die urbanen Regionen sind mehrheitlich für die liberal demokratische Bürgerplattform des Donald Tusk. Diese Annahme einer Zweiteilung der polnischen Gesellschaft entspricht nicht den wirklichen Verhältnissen, sie ist zu einfach – so gezeigt in dem Kapitel „Klassenspiele“. 

Die Republik Polen hat sich aus der adlig-gutsherrschaftlichen Welt mit einer breiten bäuerlichen Unterschicht in die Phase einer industrialisierten und sich urbanisierenden Gesellschaft entwickelt. Dieser Prozess hält an. Dabei haben sich auch die Eigentumsverhältnisse geändert. Ein erheblicher Teil des Produktionsvermögens – vornehmlich in der Industrie – befindet sich im Eigentum internationaler Konzerne und des Staates. Private Großvermögen gibt es nicht viele, aber zahlreiche wohlhabende Familien. Viele dieser Reichen sind Arbeitnehmer, beispielsweise Manager der staatlichen Unternehmen oder der Großbanken, aber auch Ärzte, Juristen, Lehrer oder akademische Mitarbeiter.

Hier wird der Begriff Mittelschicht eingeführt mit fließendem Übergang zur Unterschicht, also der Menschen, die nicht in führenden Positionen in Staatsbetrieben oder Familienunternehmen arbeiten. Der kleine, noch selbstständige Landwirt zählt zu dieser Klassifikation. 

Zur Wirklichkeit gehört auch die Tatsache, dass sich Frauen, Homosexuelle und Juden aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen und lieber nach Wien oder Berlin emigrieren möchten, so der Soziologe Tomasz Zarycki von der Universität Warschau. Allerdings ist das eine Frage des Geldes, wer es besitzt, gehört nach seiner Meinung zur Elite. Zu dieser zählt die politische Führung mit ihren Verflechtungen aus den Jahrzehnten seit der Revolution 1989 und gegenwärtig mit der Wirtschaft und der Intelligenz aus den Hochschulen. Es ist eine für den deutschen Leser verwirrende Szenerie.

Deutsche haben oft falsche Vorstellungen

Die Polen sind ein geschichtsbewusstes Volk, Staatsfeiertag ist der 11. November 1918. An diesem Tag wurde nach den Teilungen die eigene Staatlichkeit wiedergewonnen. Alljährlich findet an diesem Tag ein Unabhängigkeitsmarsch statt, der von verschiedenen rechten Organisationen getragen wird. Konservative Werte wie Patriotismus, Familie und Katholizismus sind die Ziele. Das rechte Spektrum bietet allerdings kein einheitliches Bild. Die gegenwärtige PIS-Regierung vertritt konsequent das klassisch konservative Wertesystem, das sie im Verbund mit der katholischen Kirche als tragendes und identitätsstiftendes Bewusstsein in der polnischen Bevölkerung verankert sehen möchte. Als Hebel wird der Geschichtsunterricht beziehungsweise der Lehrplan des Faches genannt, allerdings ohne konkrete Inhalte zu benennen. Weder die jahrzehntelangen Diskussionen um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen, die für das politische Polen einen hohen Stellenwert besaßen, noch das gemeinsame deutsch-polnische Geschichtsbuch werden erwähnt. 

Es muss vermutet werden, dass in dem jetzt geltenden Lehrplan für das Fach Geschichte deutschfeindliche Ressentiments eingebaut sind, die auch die offizielle polnische Politik bestimmen. Die Kürzung der Mittel für den deutschsprachigen Unterricht können ein Beweis sein. Von großer Bedeutung für das Geschichtsbild der Polen ist der Zweite Weltkrieg mit durchaus unterschiedlichen Interpretationen der Autoren. Als Beispiel wird das Massaker von Jedwabne 1941 angeführt. Hier geht es um die grundsätzliche Position der Polen zum Judentum. Die Republik Polen gilt als ein zutiefst katholisches Land. Diese Ansicht ist in Deutschland weit verbreitet, wird aber von der Chefredakteurin der Katholischen Zeitung ZNAK relativiert. Es sind Fragen der Abtreibung, der Behandlung von Flüchtlingen aus nicht-europäischen Regionen, die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch durch Kirchenvertreter, die vornehmlich jüngere Generationen überwiegend in den Ballungszentren protestieren lassen. 

Einige Beiträge thematisieren sehr kritisch die aktuelle Lage der Flüchtlinge an der weißrussisch-polnischen Grenze. An dieser Stelle muss für die Herausgeber und Verfasser aller Beiträge festgestellt werden, dass sie vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine fertiggestellt wurden. Hier wären in diesem Themenheft mit Sicherheit veränderte Akzente gesetzt worden, etwa was die Bereiche Außen-,  Bündnis- oder Flüchtlingspolitik angeht. Die neue Situation hat auch für Polen als unmittelbarer Nachbar der Ukraine innergellschaftliche Prozesse in Bewegung gesetzt.

Das Jahrbuch bietet interessante und wichtige Informationen über die Republik Polen, man erfährt spannende Hintergründe der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes seit der Befreiung vom Kommunismus. Dass das keine Einbahnstraße war und ist, sondern oft ein Weg voller Widersprüche, ist völlig klar. Ein deutscher Leser muss Grundkenntnisse in polnischer Geschichte und Gegenwart mitbringen, um alle Inhalte nachzuvollziehen.