07.05.2024

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Folge 23-22 vom 10. Juni 2022 / Deutschland und Russland / Es geht auch anders / Im Gegensatz zu der Zeit danach war das 19. Jahrhundert geprägt von vielen Jahrzehnten friedlicher bilateraler Beziehungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-22 vom 10. Juni 2022

Deutschland und Russland
Es geht auch anders
Im Gegensatz zu der Zeit danach war das 19. Jahrhundert geprägt von vielen Jahrzehnten friedlicher bilateraler Beziehungen
Manuel Ruoff

Zwischen 1812 und 1890 waren die Beziehungen zwischen Sankt Petersburg und Berlin zumindest friedlich – wohlgemerkt zwischen 1812 und 1890 und nicht von 1812 bis 1890. Denn das Jahr 1812 war überwiegend von Krieg zwischen den beiden Großmächten geprägt, nahm doch Preußen an Napoleons Russlandfeldzug teil. Auf Seiten Russlands wusste man, dass Preußen das mehr nolens als volens tat und bearbeitete den Kommandeur des preußischen Kontingents der Grande Armée, Ludwig Yorck von Wartenburg, entsprechend. Yorck wusste, dass dieser Krieg gegen Russland weder seiner noch der Preußens war, aber als Preuße hatte er Hemmungen, Befehle zu missachten oder Fahnenflucht zu begehen. So mussten die Russen York erst von französischen Befehlen und denen seines Königs abschneiden, damit er sich zu selbständigem Handeln in der Lage sah, sowie ihn von der Ausweglosigkeit seiner militärischen Lage überzeugen, bis er mit dem russischen Gegner die Konvention von Tauroggen abschloss und mit seinem Kontingent in die Neutralität wechselte – um kurze Zeit später zur russischen Seite zu wechseln. Preußens zaudernder König, Friedrich Wilhelm III., blieb keine andere Wahl, als den Seitenwechsel seines Generals nachzuvollziehen.

Konvention von Tauroggen (1812)

Nun kam es nicht unwesentlich auf die vierte kontinentale Großmacht an. Österreich war ebenfalls in ein Bündnis mit Frankreich gezwungen worden, die Heimat der Ehefrau des französischen Kaisers genoss im französisch geführten Bündnis jedoch ungleich größere Freiheiten. Österreichs dominierender Politiker jener Zeit, Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar von Metternich, war denn auch weniger von antifranzösischen Gefühlen geleitet als von dem Streben nach Gleichgewicht. Er stand vor der Frage, ob Napoleon oder ein siegreicher russischer Zar Alexander I. die größere Gefahr für das Gleichgewicht war. Ein persönliches Treffen mit dem Korsen am 26. Juni 1813 bei Dresden sollte ihm Klarheit verschaffen. Er gewann den Eindruck, dass der Franzosenkaiser nicht bereit war, sich hinter den Rhein zurückzuziehen und in eine europäische Gleichgewichtsordnung einzufügen, und er zog die Konsequenzen. Unter seiner Führung wechselte nun auch Österreich die Seite. 

In der Völkerschlacht bei Leipzig besiegten die von der britischen Insel vor allem finanziell unterstützten verbündeten Kontinentalmächte Russland, Preußen und Österreich die verbündeten Mächte Frankreich und Sachsen. Der Sachsenkönig, der gleichzeitig Herzog des von Napoleon 1807 aus preußischem Territorium geschaffenen Herzogtums Warschau war, wurde nach der Schlacht von den Alliierten festgesetzt.

Wiener Kongress (1814/15)

Die Sieger der Schlacht gewannen auch den Krieg. Nach Napoleons Niederlage sollte Europa auf dem Wiener Kongress 1814/15 eine neue Nachkriegsordnung bekommen. Als offizielle Zielvorgabe hatte Metternich als Kongresspräsident die Restauration ausgegeben, sprich die Wiederherstellung des Status quo ante, der Grenzen vor den napoleonischen Kriegen. Das hätte bedeutet, dass Preußen den größten Teil des Herzogtums Warschau bekommen hätte. Friedrich Wilhelm III. wollte die verlorenen polnischen Gebiete jedoch gar nicht zurück, sondern lieber Sachsen. Dafür wollte Alexander I. das Herzogtum Warschau. Alexander und Friedrich Wilhelm kamen deshalb überein, dass Russland das Herzogtum Warschau und Preußen das Königreich Sachsen erhalten solle. Das wurde damit legitimiert, dass der sächsische König und Warschauer Herzog, Friedrich August I., die Ansprüche auf sein Königreich und sein Herzogtum dadurch verwirkt habe, dass er bis zum Schluss zum Usurpator gehalten hatte.

Metternich wollte ein damit verbundenes Vordringen Russlands in die Mitte Europas nicht widerstandslos hinnehmen. Er bot Preußen an, ihm Sachsen zu lassen, wenn es half, ein russischen Polen zu verhindern. Dazu war der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg bereit, aber nicht sein entscheidender König.

Krimkrieg (1853–1856)

Für einen Moment sah es nach einem neuen Krieg aus: Russland und Preußen auf der einen Seite, Österreich, unterstützt von Großbritannien und Frankreich, auf der anderen. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss. Russland bekam den größten Teil Polens, aber dafür musste sich Preußen mit der wirtschaftlich unbedeutenderen Hälfte Sachsens mit der niedrigeren Seelenzahl zufriedengeben, während die bedeutendere Hälfte selbständiges Königreich unter den Wettinern blieb.

Die in Wien gezogene neue Grenze zwischen Preußen und Russland missfiel also Österreich, England und Frankreich, aber sie entsprach dem Wunsche des preußischen Königs und des russischen Zaren. Entsprechend langlebig war sie. Sie hatte rund hundert Jahre bestand, bis zum Ersten Weltkrieg.

Alvenslebensche Konvention (1863)

Ungeachtet dieser einvernehmlichen Grenzziehung schlug sich Russland 1850 in der sogenannten Herbstkrise auf die Seite Österreichs und nicht Preußens. Nach dem Scheitern des Versuchs der Paulskirche einer kleindeutschen Lösung der deutschen Frage unter Preußens Führung von unten im Jahre 1849, versuchte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. eine kleindeutsche Lösung der deutschen Frage unter Preußens Führung von oben. Das rief den Widerstand des Habsburgerreiches auf den Plan. Russland trat als Vermittler auf und schlug sich auf die Seite der Donaumonarchie. So musste Friedrich Wilhelm IV. 1850 seine Deutschlandpläne mit der Olmützer Punktuation aufgeben. Mit der Unterstützung Russlands hatte Österreich im deutschen Dualismus mit Preußen vorerst obsiegt.

Dritter Einigungskriege (1870/71)

Russlands Sympathien für Österreich kühlten im Krimkrieg jedoch stark ab. 1853 begann ein Krieg des Zaren- mit dem Osmanischen Reich. Wie beim aktuellen Ukrainekrieg schlugen sich die Westmächte Großbritannien und Frankreich auf die Seite des Kriegsgegners Russlands. Sie ergriffen allerdings nicht nur Partei, sondern griffen mit ihren Streitkräften offen in den Krieg ein. Österreich verhielt sich im Grunde wie heute im Ukrainekrieg. Es trat nicht in den Krieg ein, war aber eindeutig Partei. Nur Preußen verhielt sich wirklich neutral.

Eine zusätzliche Besserung erfuhren die Beziehungen zwischen Berlin und Petersburg 1863 durch die Alvenslebensche Konvention. In jenem Jahr war im Zarenreich ein Aufstand polnischer Separatisten ausgebrochen, der die territoriale Integrität des Zarenreiches in Frage stellte. In der Konvention billigten sich die beiden Nachbarn gegenseitig das Recht zu, polnische Separatisten über die gemeinsame Staatsgrenze hinweg zu verfolgen. 

Pontuskonferenz (1871)

Die Verbesserung der preußisch-russischen Beziehungen hielt Otto von Bismarck, ab 1862 Preußens Ministerpräsident unter König Wilhelm I., den Rücken frei bei der Einigung Deutschlands. Beim entscheidenden dritten Einigungskrieg gegen Frankreich musste Bismarck froh sein, dass Italien, Frankreich und Österreich darauf verzichteten, Frankreich zur Seite zu springen. Russland hingegen verzichtete nicht nur auf eine Parteinahme für Frankreich, es übte gegenüber Preußen wohlwollende Neutralität. Der Zar bekundete sogar seine Bereitschaft, die Neutralität des gemeinsamen österreichischen Nachbarn bei einem preußisch-französischen Konflikt notfalls mit Waffengewalt zu erzwingen. 

Dreikaiserabkommen (1873)

Preußen revanchierte sich bei Russland dafür dadurch, dass es Russland im politischen Windschatten des Deutsch-Französischen Krieges dabei unterstützte, die Ergebnisse des verlorenen Krimkrieges zu revidieren. Auf der Pontuskonferenz in London erreichte Russland im März 1871 mit Preußens Unterstützung, dass ein wichtiges Ergebnis des Krimkrieges, die Neutralität und Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres, aufgegeben wurde.

Während Preußens König Wilhelm I. an seinem Neffen auf dem russischen Zarenthon, Alexander II., ähnlich hing wie der an ihm, und aus der Zeit der Befreiungskriege eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Russland empfand, sah Bismarck die Gefahr einer zu einseitigen Bindung an das Zarenreich und dass Preußen beziehungsweise das 1871 neu gegründete Deutsche Reich zum russischen Juniorpartner herabsinken könnte. Er setzte deshalb parallel gute Beziehungen zu Österreich durch. Das Ergebnis war 1873 das Dreikaiserabkommen zwischen Berlin, Petersburg und Wien, ein Höhepunkt in der Bismarckschen Außenpolitik.

Dreikaiserbund (1881)

1877 brach der elfte russisch-türkische Krieg aus. Russland gewann ihn mit seinen Verbündeten auf dem Balkan und diktierte dem Osmanischen Reich 1878 einen harten Frieden. Den waren die Westmächte und Österreich jedoch nicht bereit zu akzeptieren. Bismarck war der Balkan „nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“, doch er kam zu der Ansicht, dass der Konflikt das Potential für einen europäischen Krieg habe und dass das junge Deutsche Reich sich aus einem solchen europäischen Kriege nicht würde heraushalten können – Deutschlands vermaledeite Mittellage. So bot Bismarck sich als „ehrlicher Makler“ an und lud zu einer Konferenz in die Reichshauptstadt. Da das Deutsche Reich der Gastgeber war und er dessen Regierungschef, fiel ihm die Präsidentschaft zu.

Russland ging aus der Konferenz als Verlierer hervor – und machte dafür die deutsche Präsidentschaft verantwortlich. Auch Russlands Verhältnis zu Österreich nahm durch den Balkankonflikt Schaden. An die Stelle des Dreikaiserabkommens trat 1881 deshalb der lockerere Dreikaiserbund. 

Rückversicherungsvertrag (1887)

Dieser Dreikaiserbund zerbrach an der 1885 beginnenden Bulgarischen Krise, die Russland und Österreich wieder auf unterschiedlichen Seiten sah. Bismarck gab den Versuch auf, beide Nachbarn unter einen Hut zu bringen, und an die Stelle der Dreierbündnisse traten nun zwei bilaterale Abkommen. Mit Österreich gab es bereits den nach dem Berliner Kongress 1879 geschlossenen Zweibund. Mit Russland schloss er nun 1887 den Rückversicherungsvertrag.

1888 starb Wilhelm I., der noch durch die Befreiungskriege an der Seite Russlands geprägt war. 1890 wurde Bismarck entlassen. Noch im selben Jahr, in dem der Eiserne Kanzler gehen musste, stand die Verlängerung des Neutralitätsabkommens an. Russland drängte darauf, aber auf Seiten der neuen deutschen Führung wurde argumentiert, dass angesichts des österreichisch-russischen Gegensatzes das Reich nicht sowohl Österreich als auch Russland ein loyaler Bündnispartner sein könne. Vermeintlich vor die Wahl gestellt, entschied sich die Reichsführung für den Zweibund mit Österreich und gegen die Verlängerung des Rückversicherungsvertrages. Es gab keinen Automatismus, aber es bleibt festzustellen, dass ein Vierteljahrhundert später Deutschland und Russland sich im Kriegszustand befanden, im Ersten Weltkrieg.