06.05.2024

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Folge 23-22 vom 10. Juni 2022 / Für Sie gelesen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-22 vom 10. Juni 2022

Für Sie gelesen

Eine neue Sicht auf die Welt

„Die vertrauten Formen, die wir als ,Kontinente‘ und ,Ozeane‘ bezeichnen, wirken so natürlich und selbstverständlich, dass kaum Anlass zu bestehen scheint, sie infrage zu stellen“, sagt Christian Grataloup in seinem Buch „Die Erfindung der Kontinente“. Der als „größter Historiker unter den Geographen“ geltende Professor aus Frankreich lehrte an der Universität Paris Diderot und wirkte an zahlreichen Publikationen zu geo-historischen Themen mit.

Allein das Durchblättern des 255-Seiten starken Buches ist hochinteressant. Ein Kupferstich von Johannes Putsch (1516–1542) zeigt eine Darstellung Europas als hochherrschaftliche Dame, deren gekröntes Haupt Spanien bildet, während Italien als rechter und Dänemark als linker Arm dargestellt wird. Es ist das Europa Karls V. und der Habsburger. Auf dem Königinnenrock tummeln sich Polonia, Prussia, Hungaria, Russia und viele mehr. Im 16. Jahrhundert, so der Autor, beginne die Wahrnehmung Europas als eines Territoriums, mit dem sich die Bewohner identifizierten. 

Bemerkenswert ist, dass das in Karten oder Gemälden dargestellte Bild der Kontinente eher dem jeweiligen Weltbild der Epoche entsprach als der Realität. Tektonische Platten erlauben eine Zuteilung der Länder zu bestimmten Kontinenten, doch erfolgte die Einteilung fast immer aufgrund politischer Entwicklungen und Interessen. 

Die Dame Europa

Begonnen habe die Aufteilung der Welt in den mittelalterlichen Klöstern, indem man die drei Teile der Erde in einem Kreis als Asia, Europa und Afrika darstellte. Dies deshalb, weil Noah drei Söhne hatte und nach religiöser Ansicht die Wiederbevölkerung nach der Sintflut durch sie erfolgte. Aus Erdteilen mit Namen im Femininum werden im 16. Jahrhundert Frauengestalten. „Die drei Söhne Noahs sind vergessen, sie haben vier schönen Damen Platz gemacht“, so der Autor, „wobei die Dame Europa dabei die Stellung einer prima inter pares“, also einer „Ersten unter Gleichen“ einnahm. 

Das letzte Kapitel „Wir und die anderen“ zeigt auf, dass zu allen Zeiten Menschen geglaubt haben, dass sie besser seien als ihre Nachbarn. „Was wäre gewesen, wenn die Entdeckungen und das Miteinander der verschiedenen Gesellschaften der Welt aus einem anderen Kulturraum als dem christlichen Abendland initiiert worden wäre?“, fragt Grataloup und beleuchtet in dem Abschnitt eine „Geschichte der unverwirklichten Möglichkeiten“, die zum Nachdenken anregt.

Die Einteilung der Welt, wie sie seit Generationen in Schulen gelehrt wird, muss sich hier kritischen Fragen stellen und kann diesen nicht standhalten. Es hätte alles auch ganz anders sein können, denn nichts ist so wie es uns erscheint. Lehrreich, informativ und interessant öffnet der Autor den Lesern die Augen für völlig neue Perspektiven zur Sicht auf die Welt. S.F.

Christian Grataloup: „Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt“, wbg Theiss, Darmstadt 2021, gebunden, 256 Seiten, 80 Euro