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Folge 24-22 vom 17. Juni 2022 / Medizintechnik / Wenn das Wunder-Implantat zum Schrott im Kopf wird / Dank technischer Wunderwerke können Blinde wieder sehen, gänzlich Gelähmte wieder kommunizieren. Aber was geschieht, wenn der Hersteller pleitegeht und die Geräte niemand mehr wartet?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-22 vom 17. Juni 2022

Medizintechnik
Wenn das Wunder-Implantat zum Schrott im Kopf wird
Dank technischer Wunderwerke können Blinde wieder sehen, gänzlich Gelähmte wieder kommunizieren. Aber was geschieht, wenn der Hersteller pleitegeht und die Geräte niemand mehr wartet?
Wolfgang Kaufmann

In den menschlichen Körper eingepflanzte Hightech-Implantate sind regelrechte Wunderwerke der Medizintechnik. So ermöglichen Netzhautimplantate wie Argus II der US-Firma Second Sight Medical Products, dass Blinde Hell-Dunkel-Kontraste und Objekte wahrnehmen können. Der Niederländer Jeroen Perk vermag dank seines 150.000 US-Dollar teuren bionischen Auges sogar Ski zu fahren. Cochlea-Implantate in der Hörschnecke des Innenohres wiederum dienen als Prothesen für Taube. Und neuerdings gibt es auch noch Gehirnimplantate, die es vollständig Gelähmten erlauben, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Die Hirnströme werden durch Elektroden im Kopf erfasst und steuern über Brain-Computer-Interfaces (BCI) einen außerhalb des Körpers befindlichen Rechner. Dazu kommen Tiefenhirnstimulatoren zur Reduzierung des Zitterns bei Menschen, die unter der Parkinson-Krankheit leiden.

Die Fortschritte der Neuro- und Computerwissenschaften haben inzwischen zu einem regelrechten Goldrausch geführt. Unternehmen, die mit solchen Implantaten beziehungsweise invasiven BCI künftig satte Gewinne einfahren wollen, schießen wie Pilze aus dem Boden. Eines davon, Neuralink, gehört übrigens auch dem Tesla- und SpaceX-Chef Elon Musk, der bereits 2017 sagte: „Für uns scheint es … keine große Anstrengung zu sein, Geräte in ein Gehirn zu stecken, um Informationen auszulesen und Informationen wieder einzulesen.“

Austausch ist schwierig und riskant

Allerdings können die Implantate und BCI wie jede andere Technik auch den Dienst verweigern, obwohl es in diesem Fall kein gezielt herbeigeführtes Verfallsdatum gibt wie beispielsweise bei Mobiltelefonen. In deren Fall sorgen die Hersteller systematisch für eine begrenzte Haltbarkeit von Bauteilen sowie das schnelle Veralten von Software-Lösungen, um den Absatz ihrer neuen Produkte vorzubereiten. 

Bei auf operativem Wege in den Körper eingebrachten technischen Komponenten wird auf solche Tricks verzichtet, weil der Austausch weit komplizierter als der Umstieg auf ein neues Telefon und vielfach auch mit erheblichen gesundheitlichen Risiken behaftet ist. Schließlich wachsen die verwendeten Mikroelektroden in die Nervenstränge oder das Hirngewebe ein und lassen sich daher nicht einfach wie Stecker herausziehen, wenn ein Wechsel erfolgen muss oder der Hersteller das Handtuch wirft und keine Reparaturen mehr anbietet.

So wie Second Sight, dessen 350 Kunden weltweit jetzt die neuerliche Erblindung droht. 2020 stand das Unternehmen kurz vor der Insolvenz, konnte aber 2021 neues Kapital einsammeln. Dennoch stürzte der Aktienkurs bald wieder ab, weswegen nun eine Fusion mit dem Biotech-Start-up Nano Precision Medical (NPM) ansteht. Das will sich jedoch auf die Entwicklung von Implantaten für die Verabreichung von Medikamenten konzentrieren und daher nur wenige Mitarbeiter von Second Sight übernehmen. Deshalb wird es weder Reparaturen noch anderweitige Hilfestellungen für die Träger von Argus-II geben. Das bekam auch schon das bisherige Second-Sight-Aushängeschild Perk zu spüren, als dessen externe, am Gürtel getragene Grafikeinheit zu Boden fiel und zerbrach. Da kam die Rettung nicht vonseiten des Unternehmens – vielmehr konnte ein Arzt aushelfen, der noch solche Einheiten auf Lager hatte.

Weniger Glück war dahingegen Barbara Campbell und Ross Doerr beschieden. Die Argus-II-Trägerin ist seit dem Ausfall ihres Implantates wieder blind, während Doerr dringend nötige Software-Updates vermisst. Als der Amerikaner deswegen bei Second Sight anrief, bekam er nur zu hören: „Wir wurden gerade alle gekündigt.“ Das veranlasste ihn zu dem Kommentar: „Es ist eine phantastische Technologie, aber ein lausiges Unternehmen.“ 

Dabei dürfen Betroffene wie Campbell und Doerr auch nicht auf die Kulanz anderer Hersteller hoffen, denn deren Systeme sind mit Argus II inkompatibel. Das wirft nun die Frage auf, wie Menschen geholfen werden kann, die in ihrem Körper Hightech-Schrott herumtragen, für welchen niemand mehr verantwortlich sein will. Der Blick auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik beziehungsweise der EU ergibt leider keine befriedigende Antwort.

Zwar existieren mittlerweile zahlreiche Vorschriften, was die Produktsicherheit und -haftung betrifft, aber viele davon bleiben sehr im Vagen, wenn es um Implantate geht, deren Austausch schwierig ist und die deshalb so lang wie möglich halten sollten. So wurde 2017 die Medizinprodukte-Verordnung verabschiedet, derzufolge die Hersteller „über den gesamten Produktlebenszyklus“ verantwortlich sind und „notwendige Maßnahmen wie Updates und Reparaturen kontinuierlich umsetzen“ müssen, „damit ein sicherer Betrieb und eine sichere Anwendung für Patienten … und Dritte gewährleistet ist“. 

Lösung winkt aus Dresden

Das schützt jedoch nicht vor den Folgen von Firmenpleiten, denn eine Verpflichtung zur Bildung angemessener Rücklagen seitens der Hersteller zur Abfederung der finanziellen Lasten für Patienten wie Krankenkassen gibt es nach wie vor keine. Dies gilt ebenso für Vorschriften zur Veröffentlichung der Software-Codes, durch die andere Firmen eher in der Lage wären, die Wartung zu übernehmen, wenn der Hersteller ausfällt. Hier muss der Gesetzgeber unbedingt nachbessern, wobei er dann zugleich zu bedenken hat, dass offene Codes das Risiko von unautorisierten Zugriffen auf die Gehirn-Computer-Schnittstellen erhöhen. 

Glücklicherweise versprechen neuere Entwicklungen wie die von Karl Leo vom Lehrstuhl für Optoelektronik am Institut für Angewandte Photophysik der Technischen Universität Dresden zumindest im Falle der obsolet gewordenen medizinischen Hilfsmittel eine elegante und ungefährliche technische Lösung in der Zukunft. Leo kreiert derzeit organische Materialien für Elektroden und andere Komponenten der Implantate, welche vom Körper abgebaut werden können.