19.04.2024

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Folge 25-22 vom 24. Juni 2022 / Landeskunde / Dokumentar einer großartigen Kulturlandschaft / Ein Nachruf auf Christian Papendick

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-22 vom 24. Juni 2022

Landeskunde
Dokumentar einer großartigen Kulturlandschaft
Ein Nachruf auf Christian Papendick
René Nehring

Am 14. Mai 2022 verstarb in Hamburg der Architekt, Fotograf, Reiseschriftsteller und Maler Christian Papendick. Geboren am 3. September 1926 gehörte er jenen letzten Jahrgängen an, die das alte Ostpreußen noch in seiner vollen Schönheit erleben konnten, bevor es in den Strudeln des Zweiten Weltkriegs, von Flucht und Vertreibung sowie jahrzehntelanger Sowjetherrschaft für immer in der Geschichte versank. 

Papendick wuchs auf in einem bildungsbürgerlichen Umfeld, wie es typisch war für das Deutschland der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Seine Tante war die Schriftstellerin Gertrud Papendick, die damals bereits in vielen Artikeln und Kurzgeschichten für Königsberger Zeitungen sowie in Novellen, Liedern und Gedichten ihre Heimat beschrieben hatte, darunter 1925 das „Ostpreußische Reiterlied“. Und über Papendicks elterlicher Wohnung in der Hardenbergstraße lebte der Maler Alfred Partikel, der als Dozent an der Königsberger Kunstakademie wirkte und dem musisch interessierten Nachbarsjungen den Weg in die Malerei und Kunst wies. 

Das Erlebnis der Nehrung

Zum Heranwachsen vieler Bürgerfamilien im Königsberg der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte die Sommerfrische in den Seebädern der Samlandküste oder in den Fischerdörfern auf der Kurischen Nehrung. Papendick sah die Nehrung erstmals 1940 – und war von einer Sekunde auf die andere begeistert. Für fünf Mark – damals ein kleines Vermögen – erwarb er eine einfache Agfa-Box und fotografierte die Landschaft zwischen Haff und Meer in all ihren Facetten. Was das Erlebnis der Nehrung ihm bedeutete, beschrieb Papendick später so: „Hier entdeckte ich meine künstlerische Ader und begann zu malen und zu zeichnen. Und noch etwas Wichtiges für mein späteres Leben fand ich damals unbewußt – ich lernte sehen!“

Eine noch größere Begeisterung als für die Nehrung selbst empfand der Junge jedoch für die Maler, die damals rund um die Niddener Künstlerkolonie versuchten, die einzigartige Farbpracht der sich ständig verändernden Landschaft auf ihre Zeichenblöcke und Leinwände zu bannen. Neben Partikel und Ernst Mollenhauer war dies vor allem der gebürtige Dresdner Richard Birnstengel, der wie so viele in jener Zeit an das Haff zog – und danach nie wieder von dieser Landschaft loskam. Birnstengel schaute dem Jungen beim Malen zu, erkannte sein Talent und gab ihm hier und da Ratschläge, was er verbessern könne. 

Eine „glückliche Fügung“ – so nannte es Papendick später wörtlich – wollte es, dass er nach Erreichen des Abiturs im Sommer 1944 zunächst nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Das gab ihm die Gelegenheit, ein letztes Mal auf die Nehrung zu ziehen, alles in sich aufzusaugen – und vieles mit seiner Agfa festzuhalten. „Es war ein irrer Sommer“, so Papendick Jahrzehnte später, „die Ostfront bewegte sich unaufhaltsam auf uns zu, so dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Krieg über uns kommen würde. Um so begierlicher saugte ich alles in mir auf.“ 

Neuanfang im Westen

Nach dem Krieg und dem Verlust der Heimat fand die versprengte Familie in Norddeutschland wieder zusammen, zunächst in Lüneburg, später in Hamburg. Mit dem Verkauf von selbst gemalten Aquarellen nordwestdeutscher Landschaften trug der junge Ostpreuße zum Lebensunterhalt der Familie in der Fremde bei. 

Der Anblick der zerstörten Elbmetropole brachte Papendick auf die Idee, Architektur zu studieren, was er denn auch von 1949 bis 1954 an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste tat. Anschließend arbeitete er bei seinem Diplomvater Werner Hebebrand in dessen Büro für Wiederaufbau bei dem zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehörenden Wohnungsbauunternehmen „Neue Heimat“. In dieser Zeit heiratete er auch seine Frau Lisa, die er selbst nur „Biene“ nannte, und die bis zu ihrem Tod vor wenigen Jahren mehr als sechs Jahrzehnte seine engste Gefährtin war. 

Von 1960 an war Papendick als freischaffender Architekt tätig, seit 1987 auch als Garten- und Landschaftsarchitekt. Unzählige Eigenheime baute oder gestaltete er im Laufe seines Berufslebens von innen, letzteres unter anderem für Altkanzler Helmut Schmidt. 

Das Erlebnis der Kurischen Nehrung freilich blieb ihm in all den Jahren stets präsent: „Immer zog es mich auf Reisen in kleine Fischerhäfen, in denen ich malte und zeichnete, und immer waren es die Farben der Kurischen Nehrung, die unwillkürlich auf das Papier kamen“, erinnert sich Papendick in einem seiner Bücher. 

Wiederentdeckung der Heimat

Wiedersehen konnte er die geliebte Landschaft der Kindheit, die nach dem Kriege hinter dem „Eisernen Vorhang“ lag, freilich erst fast ein halbes Jahrhundert später, zu Beginn der 90er Jahre. Der Eindruck, den die Nehrung auf ihn machte, war noch immer überwältigend. Wie ein Schwamm saugte er wieder alles auf, was er sah, und wie ein Besessener fotografierte er alles, was ihm vor die Kamera kam: den morbiden Charme der alten Fischerhäuser, die Gräber aus längst versunkenen Zeiten auf dem Niddener Friedhof und immer wieder auch die letzten noch auf der Nehrung lebenden Landsleute. 

Zusammengefügt wurde alles 1996 in dem im Husum-Verlag verlegten Bildband „Die Kurische Nehrung. Landschaft zwischen Traum und Wirklichkeit“, in den nicht nur aktuelle Aufnahmen einflossen, sondern auch Schnappschüsse des Autors aus seinen Schülertagen. Hinzu kamen historische Aufnahmen anderer legendärer Fotografen wie Paul Isenfels und Fritz Krauskopf. Die begleitenden Texte steuerte sein Schwager Albrecht Leuteritz bei, Bruder von „Biene“ Papendick, Kunsthistoriker und Erziehungswissenschaftler. 

Zusammen fanden beide – Papendick und Leuteritz – in den 90er Jahren einen regelrechten Traumjob. Für ein deutsches Reiseunterunternehmen, das in jener Zeit zahlreiche Studienreisen in das wieder erlebbare Ostpreußen organisierte, führten sie Woche für Woche abwechselnd die Gruppen zu den schönsten Orten der Nehrung. So konnten sie – was alle als ein Geschenk empfanden – ganze Sommer über in Nidden verbringen. 

Sommertage in Ostpreußen

Zweimal hatte ich selbst die Gelegenheit, Christian Papendick aus reinem Zufall persönlich vor Ort in Ostpreußen zu begegnen. Im Juni 1997, als ich in Königsberg studierte und einer jungen Mitarbeiterin im Büro der Stadtgemeinschaft Königsberg, die gerade angekommen war, einige Sehenswürdigkeiten des nördlichen Ostpreußens zeigte, trafen wir im Fischerdorf Gilge auf der Festlandseite des Kurischen Haffs Papendick und seine Frau in dem kleinen Café der russlanddeutschen Leni Ehrlich. Bei einem Kaffee und einer Zigarette erzählte er, den Blick auf den kleinen Gilge-Fluss gerichtet, von seinen Erkundungen. Die Fotos des Tages hatte er da schon geschossen. 

Die zweite Begegnung hatte ich im August 2003, als ich mit meiner Frau Gunda und unseren beiden ältesten Kindern, die damals freilich noch ganz klein waren, nach Tagen im Königsberger Gebiet eine Fahrt ins Blaue auf die nördliche Nehrungshälfte unternahm. Ohne ein Quartier gebucht zu haben (jedoch mit Zelt und Schlafsack für den Notfall ausgerüstet), wollten wir uns im Nachfolgebau des früheren Gasthofs Hermann Blode, dem einst legendären Mittelpunkt der Niddener Künstlerkolonie, nach einem Zimmer erkundigen. Diese waren freilich alle ausgebucht. Dafür fanden wir Papendick an der Rezeption stehend, der sich sofort an die Begegnung ein paar Jahre zuvor in Gilge erinnerte. Er empfahl, in der früheren Strandvilla des Malers Carl Knauff nachzufragen, wo wir tatsächlich in einem einfachen, jedoch im Stil der Niddener Künstlerkolonie gehaltenen Schuppen ein einfaches Quartier bekamen. 

Unser Glück war, dass in jener Woche Schwager Leuteritz die Studienreisenden führte, sodass uns Papendick mit seiner Frau mit täglich wachsender Freude und Herzlichkeit die schönsten Orte der Nehrung zeigte: neben den längst wieder leuchtenden Fischerhäusern von Nidden, Preil und Perwelk auch den „Bernsteinhafen“ von Schwarzort sowie einige der wüstenähnlichen Dünenlandschaften der Nehrung. Besonders beeindruckend war die Negelnsche Düne: zum einen wegen ihrer majestätischen Größe, zum anderen, weil unter ihr Alt-Negeln verschüttet ist, eines jener Nehrungsdörfer, die vor langer Zeit von den Wanderdünen geschluckt wurden. 

An den Abenden saßen wir dann, Schwager Leuteritz hinzustoßend, vor dem Hotel, den Blick auf das wieder einmal in gänzlich neuen Farben schimmernde Haff gerichtet und lauschten Papendicks Erzählungen von einst und heute. Auch Leuteritz und seine Schwester konnten bewegende Geschichten erzählen, war ihr Vater doch Redakteur der SMAD-Zeitung „Tägliche Rundschau“ gewesen, bis er – zusammen mit einem Großteil seiner Kollegen Mitte der 50er Jahre über Nacht in die Sowjetunion deportiert und nie wieder gesehen wurde. Ich selbst wiederum erzählte von den Erlebnissen meines Studiums in Königsberg von 1996 bis 1997. So begegneten sich in diesen Sommertagen und -nächten des Jahres 2003 Geschichten vom alten und neuen Ostpreußen. Der von „Biene“ Papendick ausgesprochene Tost „Prost auf das schöne Nidden“ klingt noch heute in den Ohren. 

Land zwischen Zerfall und Hoffnung

Man tut Christian Papendick mit Sicherheit kein Unrecht, wenn man ihn einen von der Kurischen Nehrung und dem Norden Ostpreußens Besessenen nennt. Stets war und blieb er fasziniert von den unendlich scheinenden Landschaften und deren ständig wechselnden Farben, fasziniert aber auch von ihren Menschen und deren Geschichten. Und stets hatte er eine Kamera dabei, um ja kein Motiv zu verpassen. 

Als Ergebnis dieses unermüdlichen Fotografierens erschien 2009 – wieder bei Husum – der gleichfalls monumentale Bildband „Der Norden Ostpreußens. Land zwischen Zerfall und Hoffnung. Eine Bilddokumentation“. Auch hierzu steuerte Schwager Leuteritz die begleitenden Erläuterungen bei, ergänzt um historische Texte der Tante Gertrud Papendick und aktuelle Informationen des Russen Jurij Iwanow. War das Buch über die Nehrung noch eine Liebeserklärung an eine gerade wiederentdeckte Sehnsuchtslandschaft gewesen, so wurde der Bildband über das nördliche Ostpreußen zur traurigen Dokumentation einer sterbenden Kultur. Versteppte Böden, wo einst eine „Kornkammer des Reiches“ war. Verfallene Burgen, die vor Jahrhunderten Mittelpunkte einer der größten Siedlungsleistungen des Abendlandes waren. Und immer wieder die roten Ziegel ruinöser Kirchen, in denen zuvor unzählige Generationen das „Vater unser“ gebetet hatten. 

Das Wissen darum, dass viele jener in den 90er und frühen 2000er Jahren noch im Verfall befindlichen Gebäude inzwischen ganz verschwunden sind, lässt den Leser diese Dokumentation heute mit Wehmut in die Hand nehmen. Um so wichtiger die dokumentarische Arbeit von Papendick, für die er 2011 mit dem Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen geehrt wurde. Dass er und sein Schwager es auch einfacher hätten haben können, zeigt der dritte – chronologisch zweite – Band der beiden: „Sylt. Insel zwischen Sturm und Stille“ aus dem Jahre 2005 (ebenfalls bei Husum). 

Wer schreibt, der bleibt, weiß ein altes Sprichwort. Und in der Tat sind diese Bände nun, da Christian Papendick für immer seine Augen geschlossen hat, ein großartiges Vermächtnis. Sie sind das Vermächtnis  einer einzigartigen Landschaft und ihrer ganz spezifischen Kultur – sowie eines Künstlers, der ganz darin aufgegangen und mit beiden verschmolzen ist.