20.04.2024

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Folge 26-22 vom 01. Juli 2022 / Litauen / Ein Tanz auf der Freiheitsallee / Neben Esch-sur-Alzette und Novi Sad ist Kaunas Europäische Kulturhauptstadt 2022 – und auf der Suche nach einer neuen Identität

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-22 vom 01. Juli 2022

Litauen
Ein Tanz auf der Freiheitsallee
Neben Esch-sur-Alzette und Novi Sad ist Kaunas Europäische Kulturhauptstadt 2022 – und auf der Suche nach einer neuen Identität
Helga Schnehagen

In historischen Quellen wird Kaunas bereits 1361 erwähnt. Bei der Geburtstagsfeier der Stadt, die traditionell am 20. Mai oder dem darauffolgenden Wochenende begangen wird, nimmt man aber Bezug auf das Jahr 1463. Denn damals erneuerte und erweiterte Großherzog Kasimir IV. aus dem Geschlecht der Jagiellonen die Privilegien der nur 100 Kilometer vom heutigen Königsberger Gebiet entfernt liegenden Stadt erheblich. Nach dieser Rechnung wurde Kaunas 2022 also 559 Jahre alt. Es lag nahe, dieses Datum in das Programm des Europäischen Kulturhauptstadtjahres einzubinden, das Kaunas 2022 zusammen mit Esch-sur-Alzette in Luxemburg und Novi Sad in Serbien feiert. 

Zum Auftakt verband man es mit dem traditionellen „Hoffest“, bei dem Bewohner aus Stadt und Bezirk Kaunas im Rahmen des Europäischen Nachbarschafts-festes Klappstühle und Tische in die Innenstadt bringen, um sie in eine festlich weiß gedeckte Tafel mit Blumen sowie mitgebrachten Speisen und Getränken zu verwandeln. Ort des Geschehens war Kaunas’ Hauptstraße und Prachtallee Laisvės alėja, die über 1600 Meter lange und 24 bis 27 Meter breite Freiheitsallee, die längste Fußgängerzone Osteuropas, so die Einwohner. Unter die rund 600 Linden in ihrer Mitte schoben sich kleine Bühnen zwischen die Tische, auf denen musiziert, gesungen und getanzt wurde, genauso wie auf dem Pflaster davor und dahinter. 

Großer Einwohnerschwund

Die eigentliche Geburtstagsfeier gipfelte in einer anspruchsvollen Show unter dem Titel „Der Zusammenfluss“ am Tag darauf in Fortführung der Kaunas-My­thos-Trilogie, welche die Achse im Kulturhauptstadtjahr bildet. Nach Rytis Zemkauskas, Ideengeber und Drehbuchautor der Trilogie, zeigt sie „eine Reise, ähnlich wie die drei Phasen im Leben eines Menschen: zu verstehen, wer wir sind, akzeptieren, wer wir sind, und mit uns selbst leben – wie wir sind“. Nach dem Auftakt zur Eröffnung im Januar mit der „Verwirrung“ läutete der „Zusammenfluss“ im Mai das zweite Drittel ein. Mit dem „Vertrag“ soll die Trilogie vom 25. bis 27. November enden.

An Neris und Memel gelegen, sorgte der Zusammenfluss beider Flüsse an der Spitze von Kaunas’ Halbinsel Santaka für Titel und Schauplatz. Die mit Wasser­akrobatik angereicherte Musik-Licht- und Pyro-Schau auf der Memel folgte einem Programm tiefsinniger Reflexionen über die allgegenwärtigen Gegensätze und damit verbundenen Entscheidungen: „Mensch oder Maschine? Alt oder neu? Ich oder die anderen? Wir oder sie? Stromaufwärts oder stromabwärts? Bleiben oder gehen?“

Gegangen sind zuletzt viele. Obwohl Kaunas ist in den letzten Jahren schöner geworden ist, konnte das die Abwanderung nicht stoppen. Hatte Litauens zweitgrößte Stadt 1990 noch zirka 420.000 Einwohner, waren es 2020 nur noch etwa 290.000. Heute sind es angeblich wieder rund 315.000. Damit begegnen Selbstreflexion und Perspektivsuche in Kaunas keinem abstrakten, sondern einem höchst aktuellen Problem der Stadt.

Naheliegenderweise ist die Identitätssuche mit Litauens Geschichte verbunden. Der südlichste der drei baltischen Staaten ist heute etwa so groß wie Bayern. Das war nicht immer so. Ende des 14., Anfang des 15. Jahrhunderts erstreckte sich sein Gebiet von der Ostsee bis ans Schwarze Meer und zählte damit zu den mächtigsten Europas. Danach verschwand Litauen als selbstständiger Staat von der Landkarte und wurde vergessen.

Der Zusammenschluss Litauens und Polens 1569, die Angliederung an das russische Zarenreich 1795 – durch die westlich liegende Grenze zwischen Russland und Preußen wurde Kaunas zur stark befestigten Grenzstadt – und die Besetzung durch die Sowjets 1940 hatten die Fortdauer des eigenständigen Staates ausgebremst. 

Dennoch gab das litauische Volk seine Freiheitsbestrebungen nie auf. Heute sind die rund 2,85 Millionen Litauer stolz darauf, dass nach jahrhundertelanger Okkupation ihre Selbstständigkeit in den Jahren 1918 und 1990 wiederhergestellt werden konnte.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Kaunas neu erfindet. In der wechselvollen Geschichte war es von 1920 bis 1940 vorübergehend Litauens Hauptstadt. Damals begann die Stadt rasch zu wachsen und wurde modernisiert. Ein neuer Architekturstil, eine Mischung aus Art Deco, Bauhaus und Industriedesign, wurde zum Ausdruck der neuen litauischen Identität.

Ausgezeichnet mit Kulturerbe-Siegel

Als überragendes Symbol der wiedergewonnenen Freiheit begann man 1933 den Bau der Basilika Christi Auferstehung. Ihr 70 Meter hoher Turm prägt bis heute das Stadtbild. Für seine reiche Architektur der Zwischenkriegs-Moderne wurde Kaunas bereits das Europäische Kulturerbe-Siegel verliehen. Jetzt hofft man, dass die „Architektur des Optimismus“ auch zu einem Platz auf der Unesco-Welterbeliste verhelfen wird.

Symbol aus früherer Blütezeit ist der „Weiße Schwan“, der schlanke Turm des Alten Rathauses (ab 1542). Nachdem mit dem Frieden von Melnosee 1422 der Deutschen Orden mit der Abtretung von Gebieten geschwächt war, wurden die Flüsse Memel und Neris zu wichtigen Handelswegen und Kaunas zu einem lebendigen Handelszentrum, das der Hanse angehörte. Wer es sich leisten konnte, wohnte am Rathausplatz. In einigen der hübschen alten Patrizierhäuser befinden sich heute Cafés und Restaurants. 

Der Rathausplatz als ältester erhaltener Teil der Altstadt wurde pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr renoviert. Auch die um 1410 begonnene gotische Kathedrale mit ihrer schönen Barock-Ausstattung präsentiert sich gerüstfrei in frischem Glanz. Nur die Neupflasterung der Vilnius-Straße, Kaunas ältester Straße, die in Verlängerung der Freiheitsallee zum Rathausplatz führt, hat man noch nicht geschafft. Damit ist der direkte Weg in die hübsche kleine Altstadt über die aufgerissene Straße derzeit leider etwas beschwerlich.

Wer noch Verbindungen zu Ostpreußen hat, für den wird sich eine Reise nach Kaunas immer lohnen. Dort fühlt man sich der alten Heimat ganz nahe.