27.07.2024

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Folge 27-22 vom 08. Juli 2022 / Geopolitische Schicksalstage / Sind die westlichen Demokratien für die Konflikte der Gegenwart gewappnet? Wer auf jüngste globale Entwicklungen schaut, kann dies bezweifeln. Statt rationalem Denken bestimmen moralischer Hochmut und Halbherzigkeit allzu oft das Handeln

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-22 vom 08. Juli 2022

Geopolitische Schicksalstage
Sind die westlichen Demokratien für die Konflikte der Gegenwart gewappnet? Wer auf jüngste globale Entwicklungen schaut, kann dies bezweifeln. Statt rationalem Denken bestimmen moralischer Hochmut und Halbherzigkeit allzu oft das Handeln
Herfried Münkler

Mit der Vorstellung, wir seien in eine Art von Neuauflage des Kalten Krieges hineinge­raten, ist auch die Selbstbezeichnung „der Westen“ wieder aufgetaucht. 

Tatsächlich sind einige Elemente der neuen Konfrontation den Konstellationen von 1949 bis 1989 ähnlich, etwa dass Moskau und Washington erneut die ausschlaggebende Rolle in dem Konflikt spielen. Bei genauerer Betrachtung überwiegen jedoch die Unterschiede: Was man früher die „Dritte Welt“ genannt hat spielt inzwischen politisch wie wirtschaftlich eine sehr viel wichtigere Rolle, und auch die Zusammensetzung des als „Osten“ und „Westen“ Bezeichneten hat sich erheblich verändert: Viele der ehemaligen Ostblock-Staaten sind heute Mitglieder der NATO, und Russland ist an Fläche wie Bevölkerung kleiner, als es die alte Sowjetunion war. 

Unterschiede zum Kalten Krieg

Andererseits ist Russland ein sehr viel aggressiverer Akteur als die einstige UdSSR, die – zumindest in ihrer späten Phase – politisch weithin saturiert war, während Russland seit Jahren als revisionistische Macht auftritt. Vor allem aber ist an die Stelle der kurzen direkten Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt, die im Wesentlichen auf Deutschland beschränkt war, während beide Blöcke sonst durch neutrale Staaten getrennt waren, eine ununterbrochene Konfrontationslinie vom nördlichen Finnland bis zum Schwarzen Meer getreten. Das ist politisch wie strategisch eine grundlegend andere Konstellation, als es die des Kalten Krieges war.

Die Europa betreffenden Unterschiede scheinen auf eine ressourcenmäßig stärkere Position „des Westens“ bei einem erhöhten Konfrontationsrisiko hinauszulaufen. Aber nach den jetzt zu Ende gegangenen zwei bis drei Jahrzehnten der Globalisierung lassen sich die Räume der Konfrontation nicht mehr von solchen der friedlichen Koexistenz tren­nen, wie das im Kalten Krieg der Fall war. Russland und China agieren als enge Ver­bündete, wobei Russland zunehmend in die Position eines Juniorpartners hineingerät, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht, während China als globaler Akteur mit starken maritimen Ambitionen auftritt, was in den Zeiten des Kalten Krieges nicht der Fall war. Die USA jedenfalls sehen China als den eigentlichen Konkurrenten um die globale He­gemonie an, während die auf Russland als den großen Regelbrecher und militärischen Angreifer fixierten Europäer die wirtschaftlichen Kontakte mit dem Reich der Mitte weiterhin pflegen wollen. 

„Der Westen“ hat also keine gemeinsame Vorstellung davon, wer die hauptsächliche Bedrohung von Frieden und Wohlstand ist: Russland oder China. Die USA, die sich nach der Beendigung der jugoslawischen Zerfallskriege aus der europäischen Sicherheitspolitik stark zurückgezogen hatten, sind seit Russlands Angriff auf die Ukraine wieder hierher zurückgekehrt. Aber es ist auch klar, dass sie Europa und Russland als einen lästigen Nebenkriegsschauplatz und Ostasien mitsamt dem pazifischen Raum als für die Konstellationen des 21. Jahrhunderts entscheidend ansehen. Deshalb werden die Europäer auf längere Sicht den Russen gegenüber auf sich allein gestellt sein. 

Veränderte globale Gewichtungen

Und unter diesen Umständen stellt sich das Ressourcenverhältnis nicht mehr so günstig dar, wie es beim Blick auf den Seitenwechsel der Mittel- und Osteuropäer erschienen ist. Die Gleichsetzung der jetzigen Konstellationen mit denen des Kalten Krieges ist eine Krücke der politischen Orientierung, über die man leicht stolpern und stürzen kann. Vorsicht ist angezeigt.

Diese beginnt bei der Aufladung von Himmelsrichtungen mit politischer Bedeutung. Die Formel vom Ost-West-Konflikt war ein Synonym für den Kalten Krieg, wobei die Blickrichtungen von Europa aus festgelegt wurden, was auch für den „globalen Süden“ galt, wo damals im Übrigen die geopolitisch folgenreichsten Veränderungen stattfanden – beginnend beim Zerfall der europäischen Kolonialreiche und kulminierend in einem auf der Verfügung über Rohstoffe und Energiereserven beruhenden Machtbewusstsein der arabisch-islamischen Welt, das die weltpolitischen Gewichtungen veränderte. 

Ende der westlichen Werte-Hegemonie

Heute ist das Ringen um die Unterstützung, beziehungsweise zumindest die wohlwollende Neutralität der rohstoffreichen Länder des „globalen Südens“ im Kräftemessen zwischen den Demokratien Europas und Nordamerikas sowie den autoritären Regimen Russlands und Chinas von allergrößter Bedeutung. Dass dieses Ringen längst in Gang ist, zeigt die Einladung von Kanzler Scholz an die Präsidenten Indonesiens, Indiens, Südafrikas, Senegals und Argentiniens, als Gäste zum G7-Treffen nach Elmau zu kommen. Dabei ging und geht es darum, sie auf die eigene Seite zu ziehen oder doch zu verhindern, dass sie sich der Gegenseite anschließen. Wahrscheinlich war von der politischen Symbolik her der Besuch der Fünf aus dem Süden wichtiger als die Einigkeitsbekundungen der Sieben aus dem Norden. 

Der Konflikt, von dem der Ukrainekrieg nur ein Teil ist, wenn auch der gefährlichste und blutigste, ist eine globale Auseinandersetzung, und die muss als solche geführt werden. Wer jetzt nur auf die Ukraine schaut, sieht zu wenig, um die geopolitischen Veränderungen der jüngsten Zeit wirklich zu begreifen.

Die Zeit, da die westlichen Werte ob ihres universalen Geltungsanspruchs auch global durchgesetzt werden sollten – und konnten –, ist vorbei. Der Rückzug aus Afghanistan war das Eingeständnis, dass man mit der Wertedurchsetzung in aller Welt überfordert war. Das war und bleibt die eigentliche Botschaft der Bilder vom desaströsen Abzug auf dem Kabuler Flughafen und des unzulänglich durchgeführten Versuchs, die afghanischen Helfer in den Westen mitzunehmen. 

Der Westen hat die Geltung seiner Werte auf den eigenen Raum beschränkt. Und er hat, wie gerade die Europäische Union ein ums andere Mal erfahren muss, große Mühe damit, ihnen wenigstens in seinem Eigenraum Geltung zu verschaffen. In anderen Räumen gelten andere – oder auch gar keine – Werte, und diese Pluralität der Wertordnungen ist Bestandteil einer pluralen Mächteordnung, die die Politik der nächsten Jahrzehnte prägen wird. Das zu akzeptieren ist eine Grundvoraussetzung für das politische Überleben der liberalen Demokratien westlichen Typs. Eine wertebasierte Außenpolitik ist damit zwar nicht unmöglich geworden, muss aber klüger betrieben als bloß pausbäckig verkündet werden. Je schneller die deutsche Politik etwa das begreift, desto eher wird sie in der Lage sein, ihre eigenen Interessen zu vertreten und zur Geltung zu bringen.

Halbherziges Handeln und moralischer Hochmut

Das Desaster einer selbstsuggestiven Werteorientierung ohne hinreichende strategische Analyse zeigt sich zurzeit am Scheitern der von EU und USA gegenüber Russland verhängten wirtschaftlichen Sanktionen, die bislang nicht zur Einschränkung der russischen Angriffsfähigkeit geführt haben. Stattdessen haben sie die europäische Wirtschaft durch die als Reaktion darauf verfügten Einschränkungen der russischen Gaslieferungen in arge Bedrängnis gebracht, wobei die Folgen dessen für den politischen Willen der europäischen Bevölkerungen zur finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine zurzeit noch gar nicht absehbar sind. 

Die Wirtschaftssanktionen waren von Anfang an zweierlei: ein Versuch, ohne die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auf den russischen Präsidenten Putin Druck auszuüben, um ihn zur Einstellung seiner Angriffsoperationen gegen die Ukraine zu zwingen, und zugleich Ausdruck eines westlichen Überlegenheitsbewusstseins, als Hüter der Regeln und Werte auftreten zu können, ohne mit einem Gegenhandeln des Sanktionierten rechnen zu müssen. Kurzum: Man hat sich als Erzieher zum Guten und Richtigen gesehen, der einen ungezogenen Schüler zur Räson bringt, anstatt von einer strategischen Konfrontation auszugehen, in der beide Seiten die ihnen verfügbaren Optionen einsetzen werden. Aber gleichzeitig hat man sich bei den eigenen Möglichkeiten durch die nukleare Eskalationsdrohung Russlands ins Bockshorn jagen lassen. 

Das Selbstbild, der Hüter des Rechts zu sein, ohne sich zu vergewissern, welche Instrumente bei der Rechtsdurchsetzung zur Verfügung stehen, beziehungsweise ob man bereit und in der Lage ist, diese auch einzusetzen, haben den Westen in eine unterlegene Position gegenüber Russland gebracht. Halbherzigkeit in Verbindung mit moralischem Hochmut sind politisch schlechte Ratgeber.

Rückkehr zu strategischem Denken

Die liberalen Demokratien müssen wieder lernen, strategisch zu denken und zu handeln, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit den autoritären Regimen Russlands und Chinas behaupten wollen. Der oberste Grundsatz einer entsprechenden Grand Strategy lautet dabei, dass man die autoritären Systeme nicht mit den eigenen westlichen Wertvorstellungen traktieren sollte, sondern die Unterschiede in deren Interessen analysiert, um durch entsprechende Angebote dafür zu sorgen, dass sie zueinander auf Abstand bleiben und ein gewisses Misstrauen gegeneinander hegen. Russland ist ein autoritär-autokratisches, China ein autoritär-technokratisches Regime, und dementsprechend ist die politische Problemwahrnehmung in beiden Regimen auch unterschiedlich grundiert. 

Das könnte ein Ansatzpunkt strategischen Gegenhandelns sein, freilich einer, der langfristig angelegt ist. Dabei wird es nicht darauf ankommen, dass EU und USA immer einer Meinung sind und zu denselben Maßnahmen in der Konfrontation mit dem Autoritären greifen, aber die dabei verfolgten Strategien müssen sie schon so aufeinander abstimmen, dass sie auf dasselbe Ziel gerichtet sind. Was einstmals „der Westen“ war, wird in Zukunft nämlich dreigliedrig auftreten: als EU, als USA und als Verbund der liberaldemokratischen Staaten im indopazifischen Raum, von Japan bis Australien und Neuseeland sowie in den Indischen Ozean hinein. Die USA werden der Organisator dieses Verbundes sein, wie sie das bereits in der NATO sind. Aber die Europäer müssen selbstständige Handlungsfähigkeit aufbauen, um als eigenständiger Akteur auftreten zu können und nicht bloß das sicherheitspolitische Mündel der USA zu sein. 

Gipfeltreffen wie die jüngsten von G7 in Elmau und NATO in Madrid sind Symbolisierungen dieses Verbundes. Die operative Politik wird jedoch jenseits solcher Gipfeltreffen gemacht – wenn es gut läuft. Ansonsten scheitert „der Westen“.






Prof. Dr. Herfried Münkler war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Büchern gehören „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2008) und „Der Große Krieg. 

Die Welt 1914 bis 1918“ (2013, beide Rowohlt) sowie „Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa“ (Edition Körber-Stiftung 2015). 2021 erschien „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“ (Rowohlt). 

www.rowohlt.de