20.04.2024

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Folge 27-22 vom 08. Juli 2022 / Analyse / Kasachstan geht auf Distanz zu Moskau

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-22 vom 08. Juli 2022

Analyse
Kasachstan geht auf Distanz zu Moskau
Bodo Bost

Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew war wegen des Boykotts aller wirtschaftlich führenden Staaten beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum unerwartet zum Stargast geworden und durfte neben Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf dem Podium Platz nehmen. Als die Leiterin des russischen Auslandsfernsehprogramms RT, Margarita Simonjan, den Kasachen nach der Rechtmäßigkeit dessen, was der Kreml als „Sondereinsatz“ in der Ukraine bezeichnet, fragte, antwortete der ehemalige stellvertretende Generalsekretär der Vereinten Nationen: „Es gibt unterschiedliche Meinungen dazu.“ 

Tokajew sprach diplomatisch verschnörkelt über das Völkerrecht, die UN-Charta und die Geltung des Rechts auf territoriale Integrität und Selbstbestimmung. Während Putin neben ihm saß und sein Gesicht verzog, sagte Tokajew: „Wenn das Recht auf Selbstbestimmung weltweit umgesetzt wird, wird es statt der 193 Staaten, die derzeit UN-Mitglieder sind, über 600 Nationen geben. Das wäre natürlich ein Chaos.“ 

Dann sagte er mit einem für Asiaten typischen, nur angedeuteten Lächeln etwas, das die postsowjetische „strategische Partnerschaft“ Kasachstans mit Russland zu erschüttern schien: „Deshalb werden wir Taiwan, den Kosovo, Südossetien und Abchasien nicht anerkennen.“ Und er fügte hinzu: „Das gleiche Prinzip sollte auch auf die quasi-staatlichen Gebiete angewandt werden, die unserer Ansicht nach Lugansk und Donezk sind.“ Der Kreml hatte deren Unabhängigkeit am 22. Februar, zwei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, anerkannt und damit das Signal zum jetzigen Krieg gesetzt.

Starke russische Minderheit

Der Duma-Abgeordnete Konstantin Zatulin sagte kurz darauf, Tokajew habe Putin „herausgefordert“, und er deutete an, dass Moskau in die nördlichen Regionen Kasachstans wieder einmarschieren könnte, in denen es eine große russische Minderheit gibt: „Es gibt viele Städte mit überwiegend russischer Bevölkerung, die wenig mit dem zu tun haben, was man früher Kasachstan nannte“, sagte Zatulin gegenüber Radio Moskwa. Auch Kyrill I., als Patriarch von Moskau und der ganzen Rus Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, hält Teile Nordkasachstans für „russische Erde“. Zatulins Kommentar war nicht das erste Mal, dass sich ein russischer Politiker zu diesem Thema äußerte. 

Viele in der Ukraine sahen in Tokajews Rede dagegen eine sehr mutige Ansage, die den „Untergang“ des von Moskau angeführten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Blocks in der ehemaligen UdSSR, zu dem neben Kasachstan nur noch Weißrussland, Armenien und Kirgisien gehören, bedeuten könnte. Noch im Januar hatte Putin Soldaten dieses postsowjetischen Militärbündnisses nach Kasachstan geschickt, um angesichts von Massendemonstrationen Tokajews Herrschaft zu retten. Dank russischer Unterstützung konnte sich Tokajew im Januar aus dem Schatten seines Vorgängers Nursultan Nasarbajew befreien. Es ist erstaunlich, dass bei Zatulins Drohungen dieser „Freundschaftsdienst“ nicht erwähnt wurde. 

Wink nach China

Die mehrheitlich von Muslimen bewohnte Republik Kasachstan, in der die turksprachigen Kasachen nur etwas mehr als sechs Zehntel der Einwohner stellen, liegt strategisch bedeutend zwischen Russland, China und Afghanistan. In einigen Teilen des Landes stellen Russen, Usbeken oder Uiguren die Bevölkerungsmehrheit. 

Kenner des Landes bezweifeln, dass Tokajew das Lager gewechselt hat. Ein Indikator wird sein, wie sich sein Land im Wirtschaftskrieg zwischen Russland und den USA mit deren Verbündeten verhalten wird. Kasachstan ist reich an Rohstoffen. Tokajews Bemerkung hinsichtlich Taiwans spricht dafür, dass er versucht, sich in Richtung China zu positionieren, auch um kein Opfer westlicher Sanktionen zu werden. Neben Weißrussland galt bislang Kasachstan als engster Verbündeter Russlands unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Allerdings sieht unter Letzteren nicht nur Aserbaidschan in Russlands verfahrener Position im Ukraine-Konflikt eine günstige Chance, um auf Distanz zu Putin zu gehen.