29.03.2024

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Folge 28-22 vom 15. Juli 2022 / Zeitgeschichte / Mensch Schily / Vom Verteidiger der RAF-Terroristen zum Mitgründer der Grünen zum Bundesinnenminister – das Leben Otto Schilys spiegelt wie kaum ein zweites die Entwicklungen der bundesrepublikanischen Geschichte. Doch wer ist der Mensch Otto Schily? Gedanken aus Anlass seines 90. Geburtstags von einem langjährigen Freund

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-22 vom 15. Juli 2022

Zeitgeschichte
Mensch Schily
Vom Verteidiger der RAF-Terroristen zum Mitgründer der Grünen zum Bundesinnenminister – das Leben Otto Schilys spiegelt wie kaum ein zweites die Entwicklungen der bundesrepublikanischen Geschichte. Doch wer ist der Mensch Otto Schily? Gedanken aus Anlass seines 90. Geburtstags von einem langjährigen Freund
Peter Schneider

Ich kenne keinen Mann seines Alters, dessen Kleidung sich in den wohl fünfzig Jahren, seit wir uns kennen, so wenig verändert hat. Spätestens mit Anfang Dreißig hatte Otto Schily seinen Stil gefunden und ist ihm bis heute treu geblieben. 

Egal, wo ich ihn traf, zeigte er sich in einem dunklen Anzug mit Schlips und Weste; ich kann es nicht beschwören, bin aber ziemlich sicher, dass die Ärmel seines blütenweißen Hemdes in Manschetten mit edlen Manschettenknöpfen endeten. Habe ich ihn jemals mit Bluejeans oder gar mit Sneakern angetroffen? Ich glaube nicht. Und hätte ich ihn einmal bei einer derartigen Entgleisung ertappt, hätte ich das Bild verdrängt, weil es sich mit der Marke Otto Schily einfach nicht vertrug. Während andere sich die Haare wachsen ließen, T-Shirts im amerikanischen Thrift Shop erstanden, nur noch mit Turnschuhen herumliefen – selbstverständlich in Erwartung eines Zusammenstoßes mit der Polizei –, ihre Gesinnung mit Anstecknadeln oder Kopftüchern spazieren führten, blieb Schily immer Schily, zumindest äußerlich. 

Bleibt noch ein Wort über seine Frisur zu sagen, vielleicht das einzige Detail, das seinem Outfit widersprach. Er trug seine rabenschwarzen Haare strikt nach vorn gekämmt, mal als kurz geschnittenen Pony, mal in längeren Fransen, die seine Stirn verdeckten – was ihn, wenn man nur den Kopf sah, in die Nähe der Beatles rückte. In den fünfziger und sechziger Jahren war diese Frisur als Cäsarenschnitt bekannt, und ich glaube, dass ihm die Assoziation mit dem römischen Feldherrn besser gefiel als die spätere mit den Beatles. Jedenfalls drückte diese Frisur eine klare Absage an den mit dem Lineal gezogenen Scheitel aus – an diesen Schwur auf Geradlinigkeit, dem kaum jemand aus dieser Generation entkommen ist. Man kann auch einfach sagen, dass Schily der Cäsarenschnitt gut steht, auch in den grauen Jahren. 

Staranwalt und Kneipengänger

Wer nun meint, der junge Rechtsanwalt mit dem „impeccablen“ Erscheinungsbild habe sich nur in Gerichtssälen und später in Bundestagsdebatten in Szene gesetzt, hat das Spiel von Otto Schily nicht verstanden. Ja, er war ein früh erfolgreicher, für seine scharfe Zunge gerühmter Rechtsanwalt. Er war aber auch ein Kneipengänger, ein Stammgast in den angesagten Künstlerkneipen rund um den Savignyplatz und manchmal auch im fernen Kreuzberg. Er spielte Schach im „Zwiebelfisch“, Billard im „Exil“ und Skat in der „Paris Bar“, als man sich dort noch mit Kartenspielen die Zeit vertrieb. Schily war süchtig nach Gesellschaft, nach dem Austausch mit den ganz anderen und anders Angezogenen, mit den Künstlern, die in ihm einen potentiellen Kunden sahen, mit den neuen Radikalen, die ihn bekehren wollten. 

Als die „Paris Bar“ unter einer neuen und genialen Führung, die die Bar mit Schilys Hilfe übernommen hatte, allmählich zum beliebtesten Treff Charlottenburgs und später zu Weltruhm aufstieg, sah ich Schily oft auf seinem Stammplatz am Fenster sitzen – auf der gepolsterten roten Bank rechts vom Eingang. Er hatte eine einladende Art, einen Gast an seinem Tisch willkommen zu heißen: „Hier kommt der beste Schriftsteller der Republik …“ oder „Ich begrüße die schönste Frau der Stadt …“ Diskret prüfte er an der Reaktion der Angesprochenen, ob sie seine Begrüßung ernst nahmen – was meist der Fall war. 

Natürlich habe auch ich bei ihm juristischen Rat gesucht, einmal in einer Sache, die meine Kneipenbesuche für eine gute Weile beenden hätte können. Allerdings bestand Schily darauf, dass wir diese Angelegenheit nicht in der „Paris Bar“, sondern in seinem Büro besprachen. Anlässlich einer Preisverleihung im Charlottenburger Schloss hatte ich mir eine kleine Aktion ausgedacht: Bei der Preisübergabe wollte ich einen Schaumgummihammer aus der Anzugjacke ziehen und dem Regierenden Bürgermeister damit auf den Kopf tippen. Im gleichen Augenblick sollten hinten im Saal die „Genossen“, alle mit Anzug und Krawatte, aufspringen und rufen: „Für alles Reaktionäre gilt, dass es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt.“ 

Schily sah mich fragend an. Ich wolle nur wissen, sagte ich, welche Strafe ich zu gewärtigen hätte. „Wenn du mit dem Schaumgummihammer zuschlägst“, erwiderte Schily, „ist es eine Straftat, die dir ein paar Monate Knast einbringen dürfte. Wenn du den Hammer nur hochhältst, sieht die Sache besser aus. Aber es ist nicht sicher, dass du straffrei bleibst.“

Ich konnte seiner Miene nicht entnehmen, ob er den albernen Plan für gut oder für abscheulich hielt. Aber dies zu beurteilen, war auch nicht seine Aufgabe. Falls ich damals der Revolutionär war, für den ich mich hielt, so war ich einer, der vor seiner Aktion juristischen Beistand suchte. Nach Schilys Auskunft beschloss ich, von meinem Plan Abstand zu nehmen und es bei einer Protestdemonstration im Schloss zu belassen. Deren Wirkung war immerhin so nachhaltig, dass ich seither in Berlin nie mehr einen Preis erhalten habe. 

Verteidiger der RAF

Auch bei seinen Klienten von der RAF wie Horst Mahler und Gudrun Ensslin war es nicht Schilys Aufgabe, ihre Aktionen und Überzeugungen zu bewerten. Schnell gab es jedoch Vorwürfe, er würde seinen privilegierten Zugang zu den Terroristen für den Schmuggel von Kassibern nutzen – Vorwürfe, die nie bewiesen worden sind. Keinen Zweifel kann es jedoch daran geben, dass er etwa Gudrun Ensslin mit allen Mitteln seiner anwaltlichen Kunst verteidigt und ihr Vertrauen gewonnen hat. Gleichzeitig ist nachlesbar, dass es Schily mit seinen meist bestechend formulierten anwaltlichen Tiraden nie um eine Rechtfertigung des Terrorismus gegangen ist, wohl aber um einen Angriff auf die Strafverfolgungsbehörden, die in den Jahren der RAF-Attentate die Grenzen des Rechtsstaats immer wieder überschritten haben. 

Sein Engagement hat ihm dann für lange Zeit den Beinamen „Terroristenanwalt“ eingetragen – ein haltloser Vorwurf, der seine Wirkung jedoch nicht verfehlt hat. Für viele blieb Schily ein Rätsel: ein sprachmächtiger Linker, der sich mit seiner Vorliebe für weiße Hemden und teuren Zwirn als Konservativer tarnte; ein knallharter „Law and order-Mann“, der sich in der Rolle eines Robespierre gefiel. 

Als Schily dann – immer mit demselben, ich meine: mit dem gleichen Anzug – zum Gründungsmitglied der Grünen wurde und wenige Jahre später in die SPD eintrat, in der Gerhard Schröder ihn prompt zu „seinem Fouché“ ernannte, war in der Gemeinde der Ratekünstler über Schilys „wahre Identität“ kein Halten mehr. Während die einen ihn zu einem haltlosen Opportunisten ernannten, erklärten die anderen ihn zum Verräter.  

Anwalt des Rechtsstaats

Dabei hat Schily aus seinen inneren Überzeugungen nie einen Hehl gemacht. Ich erinnere mich einer frühen Wortmeldung von ihm, die Jahre vor den RAF-Prozessen einen Sturm der Entrüstung auslöste. „Das Gewaltmonopol des Staates“, sagte Schily damals, sei „eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften der Aufklärung.“ Für viele von uns klang dieser Satz damals fremd, wie ein Zitat aus dem Gebetbuch eines verbissenen Ordnungshüters, wie ein Bekenntnis, das sich endlich mit dem Erscheinungsbild des Anzugmenschen Schily zur Deckung bringen ließ. Trotz aller Anfeindungen hat Schily dieses Bekenntnis in zahlreichen Varianten wiederholt. 

Ein anderes Bekenntnis Schilys, das aus dem ersten folgte, war für die Linke nicht weniger provokant: seine Verteidigung des Rechtsstaats. Diese in Schilys Weltbild nahezu heilige Institution, die in den Augen der APO eine von ehemaligen und neuen Nazis durchseuchte Einbildung war, sollte ein verteidigungswertes Rechtsgut sein? Dies war eine Kritik, die Schily keineswegs fremd war. Als Bundesinnenminister versuchte er, diesen Rechtsstaat durch ein Verbotsverfahren gegen die NPD zu schützen – und verlor das Verfahren nach den Regeln des Rechtsstaats, den er verteidigte. 

In den neunziger Jahren, als ich während des serbischen Beschusses als Reporter in Sarajevo und Umgebung war, war ich genötigt, an Otto Schily und seine sture Verteidigung des Rechtsstaats zurückzudenken. Ich lernte Situationen kennen, in denen wehrlose Zivilisten einer barbarischen Gewalt schutzlos ausgeliefert waren. Das ist wirklich das Schlimmste, dachte ich: Wenn alles möglich ist, wenn jedes Unrecht, jeder Gewaltakt, jede Art von Folter, jede Vergewaltigung und jeder Mord begangen werden kann und es keine Institution mehr gibt, von der die Opfer Schutz, geschweige denn die Durchsetzung ihrer Menschenrechte erwarten können. Der in Deutschland so leichtsinnig geschmähte Rechtsstaat erschien mir in diesem, gar nicht so fernen Teil der Erde plötzlich als ein Gut, das nur diejenigen gering schätzen, die es nie entbehrt haben. 

„Nur Idioten ändern sich nicht!“

Kein Zweifel, dass sich Schily bei dem raschen Wechsel seiner Rollen auch verstiegen hat. Hätte man einem Innenausschuss alle Reden vorgespielt, die er im Schwung seines Talents in der FU und in der TU zur Verteidigung der RAF-Angeklagten gehalten hat, hätte man sich seine Berufung zum Innenminister zweimal überlegt. Musste er denn als Grüner unbedingt den Protest gegen die Volkszählung unterstützen und als Innenminister dann die Behinderer der Castor-Transporte mit Strafzetteln überschütten? Schily ist kein Mann, der sich in seinem wechselvollen Leben jemals lange über eigene Fehler und Fehlentscheidungen gegrämt hat. „Natürlich habe ich die Macht angestrebt“, hat er einmal eingeräumt und hinzugefügt: „Nur Idioten ändern sich nicht!“

Dann gibt es noch eine dritte Überzeugung, die den Kompass Schilys bestimmt hat. Bei einer Bundestagsdebatte über die Wehrmachtausstellung entschließt er sich zu einer persönlichen Bemerkung über seine Familie. Dabei wird der sonst so kontrollierte Redner von seinen Emotionen übermannt; er stockt, er kann sekundenlang nicht weitersprechen, er kämpft mit den Tränen. Er spricht über drei Mitglieder seiner Familie – über seinen Onkel, über seinen Bruder, und über seinen Vater – über drei Antifaschisten, die in der Wehrmacht gedient hatten, im Krieg umkamen oder ihn mit furchtbaren Verletzungen überstanden hatten. Dann nennt Schily einen vierten Kriegsteilnehmer namens Jindrich Chajmovic, den Vater seiner Frau Linda, der als Jude gegen die Armee Hitlers gekämpft hatte, und fährt fort: „Der Einzige von diesen vier Kriegsteilnehmern, der für eine gerechte Sache kämpfte, war der Vater meiner Frau.“ 

Ich kenne Linda, Schilys Frau, seit vielen Jahren – eine tanzfreudige, eine streitbare, eine wunderbare Frau, über deren Geschichte ich nichts wusste. Wer diese Frau an seiner Seite hat und das moralische Erbe, das ihr Vater seiner Tochter und uns allen hinterlassen hat, so ernst genommen hat wie Otto Schily, hat in seinem Leben nicht viel falsch gemacht. 

Ich grüße den Jubilar, einen Großen unter denen, die nach dem Krieg für ein besseres, ein bunteres, ein fröhlicheres Deutschland gearbeitet haben, und ich wünsche ihm und seiner Familie ein paar Tage italienischer Ausgelassenheit! 






Peter Schneider, Jahrgang 1940, verbrachte seine frühe Kindheit in Königsberg, später in Sachsen und in Bayern. In den 1960er Jahren war er einer der Wortführer der Studentenbewegung und baute sich eine Existenz als freier Schriftsteller auf. Seine Erzählung „Lenz“ (1973) gilt als Kultbuch der vom Scheitern der 68er-Revolution enttäuschten Linken. Er war unter anderem Gastdozent an den Universitäten Stanford, Georgetown und Princeton. Zuletzt erschien „Denken mit dem eigenen Kopf. Essays“ (Kiepenheuer & Witsch 2020).